ich will kein inmich mehr sein ich habe augen und kann sehen deshalb habe ich schreckliche angst gehabt ich habe deshalb nichts mehr sagen wollen ich hatte angst vor ende des weges und der gemenschseinheit zu ende
7.3.91 (Birger Sellin)
Diese Zeilen sind von Birger Sellin, einem Autisten, der mit Hilfe Computergestützten Kommunikation allmählich seinem Inneren ein Äußeres geben konnte. Wirklich lesenswert, sein Buch. Ich hab mich beim Leesen stark an ein Gedicht von Rainer Werner Faßbinder erinnert gefühlt:
Nietzsche
Eine Sprache aus Trauer
aus Licht eine Mauer
Gedanken aus Stein
und ein Sein ohne Sein
Lebendige Leichen
voll Kraft und Gewalt
Von Gott keine Zeichen
so schön von Gestalt
Eine Sehnsucht aus Tränen
und Perlen von Zähnen
Gesichter Aus Stein
und ein Sein ohne Sein
Wird Schönheit versteigert
Nach Maßen gemessen
wird Freiheit verweigert
ganz einfach vergessen
Eine Schale aus Schmerzen
vom Schmerz brechen Herzen
Muskeln aus Stein
und ein Sein ohne Sein
Container an Ketten
und die Haut die dich quält
kein Gott dich zu retten
vor dem Feuer das fehlt
Eine Sonne aus Eisen
mit Qual lächelnd reisen
Götter aus Stein
und ein Sein ohne Sein
Ok, ich kannte es nicht, bevor ich nicht „Eine eigene Geschichte“ auf der Blumfeld-Platte „L’Etat Et Moi“ gehört hatte, in dem es heißt:
Eine eigene Geschichte
aus reiner Gegenwart
sammelt und Stapelt sich
von selbst herum um mich
während ich durch die Gegend fahr
Und der Staat ist kein Traum
ist sogar in meinen Küssen
ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen
und Welt verwaltender Zustand
eher Raum als Position
und so organisiert er sein Verschwinden
indem er sich durch mich bewegt
durch Gedanken aus Stein aus Licht eine Mauer
eine Sonne aus Eisen eine Sprache aus Trauer
Auf jeden Fall wirkt Sellins Sprache vom selben Gefühl berührt wie die Sprache dieser Lyrik. Und das Thema Autismus lässt mich auch seit einer ganzen Weile nicht mehr los. In Kierkegaards „Schattenrisse“ in Entweder–Oder findet sich auch eine Passage über die reflektierte Trauer, die in all ihren Facetten ziemlich genau ein autistisches Gefühl beschreibt, ohne es zu wollen:
Wie der Kranke in seinem Schmerz sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite wirft, so ist auch die reflektierte Trauer hin und her geworfen, um ihren Gegenstand und ihren Ausdruck zu finden. Wenn die Trauer Ruhe hat, so wird das Innere der Trauer auch allmählich sich nach außen durcharbeiten, im Äußeren sichtbar und somit Gegenstand künstlerischer Darstellung werden. Wenn die Trauer Muße und Ruhe in sich selber hat, so setzt die Bewegung von innen nach außen ein, die reflektierte Trauer bewegt sich nach innen, gleich dem Blut, das aus der Oberfläche flieht und dies nur durch hineilende Blässe ahnen lässt. Die reflektierte Trauer bringt keine wesentliche Veränderung im Äußeren mit sich; selbst im ersten Augenblick der Trauer hastet sie schon nach innen, und nur ein sorgfältigerer Beobachter ahnt ihr Verschwinden; später wacht sie peinlich darüber, dass das Äußere so unauffällig wie möglich sei.
Indem sie nun solchermaßen sich nach innen wendet, findet sie schließlich ein Gehege, ein Innerstes, wo sie meint bleiben zu können, und nun beginnt sie ihre einförmige Bewegung. Wie das Pendel der Uhr, so schwingt sie hin und her und kann keine Ruhe finden. Sie fängt immer wieder von vorne an und überlegt wieder, verhört die Zeugen, vergleicht und überprüft die verschiedenen Aussagen, was sie schon hundertmal getan hat, aber nie wird sie fertig. Das Einförmige bekommt mit der Zeit etwas Betäubendes. Wie der eintönige Fall der Dachtraufen, wie das eintönige Schnurren des Spinnrades, wie das monotone Geräusch, das entsteht, wenn ein Mensch in einer Etage über uns mit gemessenen Schritten hin und her geht, betäubend wirken, so findet die reflektierte Trauer schließlich Linderung in dieser Bewegung, die als eine illusorische Motion ihr zur Notwendigkeit wird. Endlich ergibt sich ein gewisses Gleichgewicht; das Bedürfnis, die Trauer zum Durchbruch kommen zu lassen, sofern es sich gelegentlich geäußert haben mag, hört auf, das Äußere ist still und ruhig, und tief innen in ihrem kleinen Winkel lebt die Trauer gleich einem wohl verwahrten Gefangenen in einem unteridischen Kerker, dort lebt sie ein Jahr ums andere dahin in ihrer einförmigen Bewegung, wandert auf und ab in ihrem Verschlag, nimmer müde, den langen oder kurzen Weg der Trauer zurückzulegen.
Der Grund dafür, dass es zu einer reflektierten Trauer kommt, kann teils in der subjektiven Beschaffenheit des Individuums liegen, teils in dem objektiven Leid oder dem Anlass zur Trauer. Ein reflexionssüchtiges Individuum wird jede Trauer in reflektierte Trauer verwandeln, seine individuelle Struktur und Organisation macht es ihm unmöglich, sich die Trauer ohne weiteres zu assimilieren. Dies ist indessen eine Krankhaftigkeit, die nicht sonderlich zu interessieren vermag, da auf diese Weise jede Zufälligkeit eine Metamorphose erfahren kann, durch die sie zu einer reflektierten Trauer wird. Etwas anderes ist es, wenn das objektive Leid oder der Anlass der Trauer im Individuum selbst die Reflexion erzeugt, welche die Trauer zu einer reflektierten Trauer macht. Dies ist überall da der Fall, wo das objektive Leid in sich nicht fertig ist, wo es einen Zweifel zurücklässt, wie dieser im übrigen auch immer beschaffen sein möge. Hier eröffnet sich dem Denken alsbald eine große Mannigfaltigkeit, um so größer, je nachdem einer viel erlebt und erfahren oder er Neigung hat, seinen Scharfsinn mit derartigen Experimenten zu beschäftigen. Es ist indessen keineswegs meine Absicht, die ganze Mannigfaltigkeit durchzuarbeiten, eine einzige Seite nur möchte ich ans Licht ziehen, so wie sie sich meiner Beobachtung gezeigt hat. Wenn der Anlass der Trauer ein Betrug ist, so ist das objektive Leid so beschaffen, dass es im Individuum die refletkierte Trauer erzeugt. Ob ein Betrug wirklich ein Betrug ist, lässt sich oft äußerst schwer feststellen, und doch hängt alles davon ab; solange es zweifelhaft ist, solange findet die Trauer keine Ruhe, sondern muss fortfahren in der Reflexion auf und ab zu wandern. Wenn ferner dieser Betrug nichts Äußerliches betrifft, sondern das ganze innere Leben eines Menschen, seines Lebens innersten Kern, so wird die Wahrscheinlichkeit für das Fortdauern der reflektierten Trauer immer größer.
Ich gebe zu, dass es mittlerweile keine „Kurzen“ Gedanken mehr sind. (Obwohl ich bislang eigentlich nur zitiert hab…) Und worauf ich eigentlich hinaus wollte, hab ich bislang noch nicht einmal erwähnt:
Ich hab neulich irgendwo mal was von einer Studie geleesen, die Hinweise darauf gegeben haben soll, dass mit der steigenden Computer- und Internetnutzung auch autistische Verhaltensweisen häufiger vorkämen. Man kann bei Autismus nicht wirklich von einer Krankheit sprechen. Um so interessanter, dass ich mich in so manchen autistischen Verhaltensweisen wiederfinde – nicht dass ich mich als Autist sehe oder auch nur behaupten würde, ich hätte sowas wie das Asperger-Syndrom. Nein, es ist vielmehr, dass ich glaube, dass prinzipiell jeder Mensch jedes Verhalten in unterschiedlich starker Ausprägung bei sich vorfinden kann, wenn man nur lange genug in sich sucht. Und so dachte ich auch bei mir, dass ich – seit ich mich um diese Internetseite bemühe – irgendwie im Netz mehr aus mir raus gehe. Obwohl ich hier die ganzen Sachen in die Welt hinausposaune, bring ich manchmal nicht die einfachsten Worte meinem persönlichen Gegenüber über die Lippen. (Vielleicht bin ich auch manchmal einfach „behindert“ wie meine Hauptschüler sagen würden…) Ich glaube, dass das im Wesentlichen daran liegt, dass ich, obwohl ich weiß, dass die Dinge hier vielleicht von ein paar Leuten geleesen werden, Leuten, die mich auch persönlich kennen, niemandem ins Angesicht sehen muss, während ich rede.
Autisten meiden in der Regel direkten Blickkontakt. Für manch einen wäre es eine Strafe, ihn zu zwingen, einem in die Augen zu sehen. Das Internet hat den Vorteil der absoluten Anonymität – nicht so sehr des eigenen Selbst, sondern vielmehr des Gegenübers. Der geheimnisvolle Leser ist glaube ich der entscheidende Punkt, warum es einem in diesen moderneren Kommunikationskanälen leichter fällt, sein Inneres zu entäußern. An anderer Stelle tut man das nur, wenn man sein Gegenüber ausgesprochen gut kennt und ihm vertraut.
ohne unerkannt zu bleiben rede ich keine vernünftigen sachen alles ist lüge
14.3.91 (Birger Sellin)