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Schlagwort: erlebt

Anzugträger

Gestern hatte ich die grandiose Idee, nach etwa 2-3 Stunden Radfahren, beim Abschlussabend der Schule im Anzug auszuschwitzen. Ausgangspunkt war das Pauseneis im Kloster Arnsburg, das energietechnisch eh fragwürdig dazu führte, dass ich erst um 17.20h in der Wohnung ankam, um 18.00h sollte ich schließlich in Atzbach sein. Nicht unmöglich. 18.05h war es dann, als ich lässig, als würde ich jeden Tag den Anzug tragen, mit dem Jackett in der Ellbeuge und der Kamera in der Hand an der Mensa der Schule vorbeiging mit festem Blick auf die Turnhalle, in der Abschlussfeier vermutlich schon begonnen hatte. In der Mensa jedoch räumten zwei wichtige Lehrer hektisch Stühle beieinander, ich versuchte das zu ignorieren, wurde allerdings von der Stundenplanfrau doch noch entdeckt und so kam es, dass ich mit vier Stühlen in der Hand und Kamera und Jackett auf dem Stuhlstapel etwas weniger lässig zur Turnhall ächzte. Der 9.-Klässler vor mir bekam das deutlich entspannter hin, er erinnerte mich an den Jugendlichen, der mich (Rennrad, Radlerkluft, Straße) vorhin mit seinem Billighardtail auf dem Bürgersteig überholt hatte. „Ich mach ja auf Ausdauer!“, hatte ich mich in dem Moment beruhigt, um den Jugendlichen keine Kraftausdrücke an den Kopf zu werfen, um meine Niederlage sinnvoll zu kompensieren. Während ich mich daran erinnerte, war der 9.-Klässler schon in der Turnhalle verschwunden und damit auch meine Chance, irgendwas irgendwie zu kompensieren. Ich trug die Stühle rein, suchte mir einen geeigneten Platz zum Fotografieren, stehend an der Seitenwand – und begann langsam aber stetig zu schwitzen. Die Klimasituation in der vollen Halle trug dazu bei, ebenso wie die Tatsache, dass ich keine Tücher dabei hatte, dass der Boden unter mir, genauer gesagt meinen Unterarmen nicht lange trocken blieb. (Zum Glück ist meine Kamera wasserabweisend…) Ich wurde dann im Laufe des Abends erstaunlich oft darauf angesprochen, dass es in der Halle ja ganz schön warm sei. Ja, sagte ich dann jedesmal. Kann man klüger antworten, wenn man nicht hinterherkommt, die Schweißtropfen von der Brille zu wischen? Die Toiletten waren nur mit Föhns zum Händetrocknen ausgestattet, das war dann auch nicht hilfreich. Ich hab dann gemerkt, wie saugstark so ein Anzugstoff sein kann… Jedenfalls dauerte das Ausschwitzen etwa 40 Minuten und die ganze Veranstaltung etwa zwei Stunden. Viele gute Reden gab es mit einem Satz von der Vorsitzenden des Förderkreises an die abgehenden Schüler gerichtet, der mir im Gedächtnis blieb:

 

Seid mutig und besteigt die höchsten Berge, um die Welt zu sehen, aber nicht, um von der Welt gesehen zu werden.

 

Ps: Ich hab mal geleesen, dass es ein gutes Zeichen ist, wenn man viel schwitzt, da das zeigt, dass der Kühlmechanismus des Körpers gut trainiert ist.

 

Vergessen

Ich war gestern in einem Altenpflegeheim, die hatten dort ein Sommerfest und ich wollte die Gelegenheit nutzen, einen alten Bekannten zu besuchen. Meine Mutter meinte, ich solle damit rechnen, dass er mich nicht mehr erkennt, aber wenn er jemanden erkennt, dann bestimmt den Ole, sagte sie. Ich wollte das gerne glauben. Als ich ankam, brauchte ich erst mal eine Weile, bis ich ihn gefunden hatte, er hatte sich auch körperlich sehr verändert. Und was dann wirklich schwierig war, zu spüren, dass er mich nicht erkannte. Das vorher zu wissen und dann das Vergessen zu erleben sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.

Ich hab ihm eine Arbeitstaschenlampe aus dem Baumarkt mitgebracht, weil ich wusste, dass er für sinnlosen Unfug immer zu haben war. Er hat sie dann tatsächlich auch immer wieder vom Tisch genommen, auf den Ein-Schalter gedrückt, gesehen, dass sie leuchtet, sie wieder ausgeschaltet und zurück auf den Tisch gelegt. Nach ein paar Minuten ging das wieder von vorne los, so als sei er in einer Wiederholung gefangen. Heute denke ich, dass er das gemacht hat, um die Lampe in seinen Besitz zu nehmen und sich daran zu gewöhnen.

Meine Supertante hat mir dann noch das Wohnheim gezeigt und mich sehr beeindruckt, weil sie eigentlich fast jeden kannte und es irgendwie immer schaffte, eine persönliche Ebene zu Leuten aufzubauen, auch wenn manche nur zurück lächelten oder für mich unverständliche Dinge in einer Mischung aus Platt und Demenz quasselten. Mit jemandem zu kommunizieren, wenn man keine, kaum oder eine andere Bestätigung als erwartet bekommt, finde ich ziemlich schwierig. Es arbeiten dort, wenn ich mich richtig erinnere, etwa 200 Ehrenamtliche, was ich echt stark finde. Im ganzen Haus sind vereinzelt Erinnerungsstücke aus der guten, alten Zeit aufgestellt. Dies hilft sicherlich einzelnen, Situationen zu erleben, in denen man sich erinnert.

Das schlimmste, das man einen Demenzkranken fragen kann: „Kennste mich noch?“ Denn was ist, wenn nicht? Damit setzt man den anderen so sehr unter Druck, dass vielleicht gar kein Gespräch zustande kommt…

Es war eine Erfahrung, die man mit noch so vielem theoretischen Wissen über die Demenzproblematik nicht ersetzen kann.

Sure, he will

Am Freitag war ich in Paderborn mit meiner Schwester und meinem Hund unterwegs. Eine Frau überholte uns und flüsterte zu ihrem ca. 4jährigen Kind, als das fasziniert den Hund ansah: Be careful, this dog might eat you for breakfast. (Oder so ähnlich, es waren jedenfalls native speaker.) Mir ist dann rausgerutscht: Sure, he will. Die Mutter hat gelacht. Das Kind hatte Angst und hat sich noch die nächsten 100m, die die beiden sich von uns vor uns entfernt haben umgedreht.

Freund oder Arschloch

Gestern habe ich einen Anhalter mitgenommen. Ein mittelalter Herr türkischer Herkunft hatte ein paar Elektrogeräte von Frohnhausen nach Dillenburg zu bringen. Als er im Auto saß, fragte er in gebrochenem Deutsch, ob wir noch woanders langfahren könnten, er würde gerne noch anderes Zeug  mitnehmen. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ziemlich große Blechplatten, die nur mit einigen Umräumaktionen in mein Auto gepasst hätten. Da hatte ich keinen Bock drauf, also fuhren wir wieder weiter. Er meinte dabei nur, dass er bald noch mal hier vorbei schauen müsse, sonst „holt so eine andere Arschloch“ die Bleche ab.

Auf der folgenden kurzen Fahrt erklärte er mir, dass es ihm um Kupfer und ähnliche wertvolle Bestandteile in ausrangierten Bauteilen ginge. Er fragte mich dann auch, ob ich den Monitor und den Computer, die ich  dabei hatte, um sie in meinen Klassenraum zu stellen, noch bräuchte. Ich erklärte ihm das. Er wurde dann hellörig und meinte, ich solle an ihn denken, wenn unsere Schule mal alte Sachen ausrangiere. Er würde mir für 20,30 Monitore auf 50 Euro geben.

Bei ihm zu Hause angekommen zeigte er mir noch seine Garage mit wertvollem Gerümpel. Autoreifen wollte er mir dabei auch verkaufen. Bei dem Gespräch nannte er mich dann öfter „Freund“. Ich fuhr schließlich weiter ins Schwimmbad und dachte noch ein bisschen über den gar nicht so wunderlichen Mann nach und merkte, dass man leicht jemanden, den man per Anhalter kennen lernt, als „Freund“ und noch leichter jemanden, den man gar nicht kennt, als „Arschloch“ bezeichnen kann.

Die Moral von der Geschichte: Nur weil ich eine e-Wigkeit hier nichts geschrieben habe, heißt das nicht, dass dies das spektakulärste Ereignis in der letzten Zeit war, dass „gebrochenes Deutsch“ eine allgemeingültige Kategorie unabhängig vom Betrachter sei, und noch weniger, dass ich was zu sagen hätte.

Granit: Kunst ist eine kalte Konstruktion

Gestern war ich auf der Eröffnungsveranstaltung zur Ausstellung „Granit“ in der Gießener Kunsthalle.  Das Plakat zur Ausstellung war schon geil. Und die Ausstellung selbst war irgendwie atemberaubend: Zwei Wände, auf der unteren Hälfte granitfarben gestrichen, die obere Hälfte in der Mitte durch eine Lichtzeile mittig getrennt. Ich vermute, dass der „Elite“-Cellist, der zur Eröffnung gut unnahbare Musik gespielt hat, ziemlich teuer war. Jedenfalls war Gerhard Merz, der Künstler, nicht da, war nie da. Das gesamte Kunstwerk entstand nur auf Anweisung und ein Freund von ihm war zur Begutachtung mal da, um unzufrieden zu sein. Ich kann damit nichts anfangen, noch weniger damit, wie elitär toll das alle bei der Eröffnung gefunden haben.

Ein netter Abend in Berlin

Wollte nur mal eben ein paar Bilder online stellen von einem netten Abend an der Spree in einer Freiluftbar namens Kiki Blofeld. War da letztes Jahr schon mal, leider haben sie die Paletten durch Mini-Liegestühle ersetzt, was vielleicht ein bisschen bequemer ist, aber doch ein wenig Handmade-Flair einbüßt, der mir so gut gefallen hatte. Na egal, es war trotzdem ganz cool, obwohl ich nicht ein einziges Mal open Air gekickert habe…

Kronleuchter, Spree, Spree2, Dunkel, Dunkel2, Spreedunkel, Spreedunkel2, Spreesepia, Spreesepia2

Ich gebe zu, dass ich einfach nur mit meinem Handy rumgepspielt habe, aber damit ich mir mal ein bisschen mehr wie ein richtiger Blogger vorkomme, wollte ich die Fotos niemandem vorenthalten…

Alte Bekanntschaften

Gestern nach dem Schreiben eines Blogeintrags bin ich durch wenige Berliner Straßen flaniert, um mich zu bewegen, mir etwas Zeit zum vereinbarten Sudanesen-Döner-Termin zu vertreiben und die ein oder andere Info abzugreifen, in welchen letzten Zügen Deutschland beim Spiel gegen Bosnien wars glaube wohl liegen mochte. Ich hatte mir gerade in einem ausufernden Anfall überbordender Dekadenz ein Eis gekauft und lief von der Markthalle, einem kleinen Laden, zu groß, um sich Kiosk zu nennen, aber speziell genug, um spät abends noch locker geöffnet zu haben, den Bürgersteig weiter, als mein Blick in einer dieser Wohnzimmerkneipen auf einem ebenso wie ich verdutzt dreinschauenden Gesicht hängen blieb. Meine Trägheit ging noch ein paar Schritte weiter, sodass ich das Gesicht wieder aus den Augen verlor. Ich stoppte, ging zurück und vergewisserte mich, dass ich dort einen alten Gießener Bekannten sitzen sah, von dem ich wusste, dass er sich vor fünf oder sechs Jahren nach Berlin aufgemacht hatte. Er war die Sorte Bekanntschaft, die man nicht gut genug kennt, um ihn einen Freund zu nennen, wenn man sich aber mal trifft, immer nette und auch persönliche Gespräche bei rauskommen. So hatte ich ihn ein Jahr, nachdem er nach Berlin gegangen war, in Gießen mal wieder getroffen und er hatte mich auf meine Frage, wie es ihm in Berlin ginge, mit der Antwort beeindruckt: „Egal wo, die Leute haben die gleichen Probleme.“ Diese Lebensweisheit nahm ich mir von da an mit, auch wenn ich vorher schon geahnt haben mochte, dass ich nicht extra in die Hauptstadt ziehen muss, um die Gerechtigkeit in der Welt in Frage zu stellen. … Ich trat in das gastfreundliche Wohnzimmer ein, wo wir uns herzlich begrüßten, ein Tannenzäpfle tranken und den Rest vom Fußballspiel in der Runde seiner Freunde anschauten. Auf die Frage, wie es ihm hier gehe und was er so mache, erzählte er mir, dass er froh über den Entschluss sei, damals aus Gießen weggegangen zu sein, denn dort seien schon viele Bauern gewesen und er habe als kleiner Türke dort keinen guten Stand gehabt. Sicherlich eine akzeptable Wahrheit, war mir aber dann doch ein leichter Gegensatz zur Jahre zuvor formulierten Lebensweisheit. Er erzählte mir dann, dass er derzeit Heiler sei und als ich genauer nachfragte, fiel das Wort „Schamane„. Ich hoffe, er hat mir nicht übel genommen, dass ich lachen musste. Jedenfalls klang der weitere Plan, mit ein paar Freunden einen Laden namens ‚Lesehalle‘ zu eröffnen, interessant. Vielleicht meldet er sich heute noch mal bei mir zwecks Kaffeetreffen, dann kann er mir noch ein bisschen mehr über deren Konzept erzählen, was interessant klang, ich aber nach einem leckeren Erdnuss-Tofu-Döner vergessen habe. Jedenfalls lustig, wie sehr das Dorfgefühl mich bis nach Berlin begleitet.

Kompetenzdesorientierung

Neulich beim pädagogischen Tag an der Schule, der unter dem Motto „Unterrichtsentwicklung“ stand und sich schwer mit Kompetenzen und Bildungsstandards befasste, lauschte ich mit meinem Kollegium einem nicht schlechten, wenngleich auch nicht guten, Vortrag über Kompetenzorientierung. So richtig neu war mir aus alledem nichts, lustig fand ich nur, wie der Herr vom IQ Hessen es geschafft hat, elegant zu verschleiern, dass Hessen mal wieder einen Sonderweg bundesweit zu nehmen versucht, indem andere Kompetenzbegriffe als die bundesweiten Termini benutzt werden sollen – zumindest in Geographie ist das geplant. Dumm ist, dass es dabei nicht nur um Begriffe sondern auch um Inhalte geht und die geographieeigene Kompetenz „Räumliche Orientierung“ nicht weiter auftaucht, was dem ohnehin schon wenig angesehenen Fach weiter die Bedeutung streitig macht. Jedenfalls ersparte ich mir, dem IQ-Mann und dem Kollegium diese und andere Kritik nach Beendigung seines Vortrags, um anderen das fragende Wort zu überlassen. Und so stand auch gleich ein Kollege mit einer wichtigen Frage auf, bevor er die jedoch stellte, wollte er sich absichern und bat den IQ-Mann, kompetenzorientiert eben noch mal schnell Folie 10 der PowerPointPräsentation aufzurufen. Was dann passierte, war spektakulär: Ohne zu übertreiben, es dauerte etwa vier Minuten, bis es dem Vortragenden gelang, die gewünschte Folie aufzurufen. Mit Spannung verfolgten wir die kläglichen Mausgesten auf den beiden Leinwänden und jedesmal, wenn der Zeiger deutlich Folie 10 verfehlte oder einen Rechts- statt Linksklick vollzog, ging ein mitleidiges Raunen durch den Raum. Ganz großes Tennis. Nachdem IQ-Man es dann unter anweisender Hilfe des stellvertretenden Schulleiters geschafft hatte, die Folie im Programm auf der Bearbeitungsebene sichtbar zu machen, ahnte ich das nächste Unheil kommen: Er startete die Bildschirmpräsentation und schwupps waren wir wieder auf der ersten Folie… Irgendwann waren dann die besagten vier Minuten um und Folie 10 präsentationsbereit. Was der Kollege diesbezüglich überhaupt fragen wollte, hab ich dann vergessen, aber das kompetendesorientierte Spektakel rund um PowerPoint wird wohl noch ne Weile in meinem Gedächtnis bleiben. Macht das IQ ja auch nur sympathisch.

PS: Lehrer sind wie Schüler, wird mir immer wieder in solchen Situationen, wenn alle im „Klassenverband“ auf einem Haufen sitzen und Tuscheln, Mathearbeiten korrigieren oder sich über Kollegen austauschen immer wieder bewusst. Zu dieser Erkenntnis braucht es nicht Freires Pädagogik der Unterdrückten und den dort geprägten Begriff des Schüler-Lehrers bzw. Lehrer-Schülers.

Wie ich mein 2°-Ziel verfehlte

Ich sitze grade in einem Bistro in Berlin, wo ich zurzeit einen Freund besuche, der am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) arbeitet. Das Wetter ist bombig und so genieße ich die letzte Sonne bei einem frischen Pfefferminztee. Eigentlich war der Plan gewesen, heute um 14.00h zu einem Vortrag von Lutz Wicke mit dem Titel Nach Kopenhagen: Neue Strategie zur Realisierung des 2°max-Klimazieles zu gehen:

Wollen Deutschland und die Europäische Union ihr Klimaziel nicht verloren geben, dann bedarf es der schnellen Entwicklung und Durchsetzung einer wirksameren und gerechteren Klimaschutzstrategie. Denn die Fortsetzung der derzeitigen, wenig strukturierten und effektiven Strategie birgt große Langfristrisiken für Mensch und Natur in sich. Außerdem müssen gravierende Konstruktionsfehler im bestehenden Weltklimaschutzsystem durch strukturelle Weiterentwicklungen im Sinne der wichtigsten Vereinbarungen im „Copenhagen Accord“ beseitigt werden. Die 2°max-Strategie ist ein ausgearbeiteter Vorschlag für eine künftige Weltklimaschutzarchitektur, welche die unterschiedliche Interessenlage wichtiger internationaler Akteure explizit berücksichtigt.

Prof. Dr. Lutz Wicke: Direktor des Instituts für Umweltmanagement an der Wirtschaftshochschule ESCP Europe. Der ehemalige Wissenschaftliche Direktor am Umweltbundesamt arbeitet seit Jahren an einem durchsetzbaren und effektiven Weltklimaschutzsystem. Als Umweltstaatssekretär war er auch politisch-praktisch für den Klimaschutz tätig.

Um rechtzeitig dort zu sein, hab ich mir tatsächlich den Wecker 7.00h gestellt, um mit Staus und Suchen genügend Zeit für die Fahrt mit dem Auto von Gießen nach Potsdam einzuplanen. Ich bin dann auch tatsächlich schon um kurz nach neun losgefahren. Auf der A4 geriet ich in einen Stau erster Ordnung, als ich dann von der Autobahn abfuhr auch gleich in einen zweiter Ordnung. Aber ein Beinahefeldweg sorgte dafür, dass mein Zeitmanagement nicht ein totales Desaster zu werden drohte. Nun musste ich aber ein wenig aufs Gas treten, um noch pünktlich um zwei in Potsdam anzukommen. Ums kurz zu machen: Ich habs nicht rechtzeitig geschafft und die Spitzengeschwindigkeiten von ~180km/h (Tacho) sorgten dafür, dass ich nicht nur den Vortrag über die neuen Strategien zum Erreichen des 2°-Ziels verpasste, sondern auch nicht unerheblich zum vermutlichen Verfehlen desselbigen beitrug…

Jedenfalls solls morgen noch nen klimatisch günstigen Tag fürs Draußensitzen geben, mal sehen, ob ich noch ein bisschen fletzen kann. Schließlich war das Autofahren ziemlich anstrengend, von Potsdam nach Berlin hats übrigens zwei Stunden Stop’n’Go gedauert.

Antarifa

Neulich im Elektromarkt, ich stand an der Kasse, da präsentierte sich mir auf Augenhöhe ein kleiner Verkaufsständer. Daran hingen alle möglichen Buttons, die irgendwie politisch oder subkulturell angehaucht waren, aber doch deutlich nur Beiwerk sein wollten. Ich staunte nicht blöd, als ich mir einen Ataributton näher anschaute: Unter dem Firmenlogo stand nämlich nicht Atari sondern Antifa. Interessant ist, dass die Firma Atari, die sich auf Videospiele spezialisiert hat, eine (kurze) Geschichte hat, mit der ein gewisser Kultstatus verbunden ist. Der Bezug zu antifaschistischem Engagement, über dessen Art man zweifelsohne streiten sollte, wurde mir allerdings in der Schlange stehend nicht so ganz klar. Stattdessen lärmte in meinem Ohr eine Zeile aus einem „But Alive“-Song: „Die allergrößte Scheiße heißt: unpolitisch.“ Aber zum Glück ist Kult ja immer schick. Und so ein witziger Button hat ja auch was. Wenn schon keine Aussage, dann doch wenigstens Style. Ob sich der Schwarze Block wohl Message-Buttons bei Media-Markt kauft, bevors auf die G8-Demo geht?

Im Schwitzkasten des Zeitdrucks

Neulich wurde auf dem Geburtstag meines Vaters ein Gespräch über die schwierigen Bedingungen, unter denen Lieferfahrer arbeiten müssen, geführt. Vor allen Dingen der Zeitdruck könne dabei an so manchem Nervenkostüm nagen, so der Einblick von Betroffenen. Durch das Gespräch fühlte ich mich an einen Vorfall erinnert, in den ich vor ein bis zwei Jahren verwickelt war:

Kaffeefahrt zur Qualitätsentwicklung: „I needs a beer“

Gestern war ich in Frankfurt beim dortigen Amt für Lehrerbildung, um an einer Testleiterschulung im Rahmen des Instituts für Qualitätsentwicklung teilzunehmen. War an sich auch ganz spannend, bis auf die Schulung. – Geht halt letztlich um Statistik: Objektivität, Validität, Reliabilität. Das Ziel davon ist es, den Schulen Tests zur Verfügung zu stellen, deren Ergebnisse als  nationaler bzw. landesweiter Leistungsvergleich der schulinternen Evaluation dienen sollen. Dahinter steckt der meiner Ansicht nach alte Irrtum, dass Bildung messbar bzw. objektivierbar sei. Nicht, dass keine Bildungsstatisitk Wert besitze, aber ich erachte es als gefährlich, ein Instrument zu entwickeln, das behauptet, endlich objektiv, sprich: „wahrhaft“, einen wie auch immer gearteten Leistungsstand darzustellen. Letztlich ist das die gleiche Diskussion, die sich auch um die Zensuren dreht.

Was dann noch mehr Unmut in mir hervorrief, waren die Kartons mit Testmaterialien, die wir je nach Anzahl unserer Schulbesuche in die Hand gedrückt bekamen. Die konnten wir in vom IQ organisierte REWE-Tüten stecken, sodass wir wie Kaffeefahrtteilnehmer im vollbesetzten Zug aus Frankfurt wegfuhren. Fünf Personen mit 10 Rewetüten belagern sieben Plätze (die Kartons passten nicht in die Gepäckablage). Ich will nicht wissen, was die Leute über unsere Herkunft gedacht haben – dass wir es nötig haben, nach Frankfurt zum Rewe einkaufen zu fahren…

Auf der Fahrt saß ich mit einer Freundin auf einem vollgepackten Viererplatz, als eine Frau mit einer Gruppe Reisender ankam. Sie befahl ihren Begleitern, wo sie sich hinsetzen sollten. Alle wirkten ein bisschen – ich weiß jetzt nicht, wie ich es ausdrücken soll – prekär/bildungsfern/heruntergekommen. (Bei dem Herrn, den sie in unseren Viererplatz plazierte, nachdem wir unsere Kartons auf einen Platz gestapelt hatten, bekam ich nach kurzer Zeit extreme Lust auf alten Käse.) Die dominante Dame, die mich ein bisschen an das Klischee einer älteren Zigeunerin erinnerte, fragte dann unseren neuen Reisebegleiter, während sie ihn hinsetzte, wo er denn herkäme, sie würde einen arabischen oder persischen Hintergrund vermuten. Er kuckte nur ein bisschen komisch und sagte, dass er aus Deutschland komme (Rüsselsheim, wie ich im späteren Gespräch mit ihm erfahren konnte). Die Dame erklärte ihm, dass ihr eigener Freund aus Rumänien komme, das sei ein ganz ausgezeichneter Menschenschlag, und setzte sich zwei Reihen weiter auf ihren Platz. Ich konnte beobachten, wie sie nach kurzer Zeit asiatisches Essen auspackte, das mit seinen süß-sauren Soßen die ohnehin schon exotischen Gerüche im Wagon ergänzte. Sie aß aus einem viergeteilten Plastikteller, als ich mitbekam, wie sie den Preis ihrem Sitznachbarn vorrechnete: „1,60 das hier, 1,70 das und die beiden Soßen je 50 Cent. 3 Euro für einen ganzen Teller, da kann man nicht meckern!“ Ich verkniff einen Kommentar, der zwar vielleicht zu einer Qualitätsentwicklung hätte beitragen können, aber irgendwie fühlte ich mich mit meiner Rewetüten-Armada nicht sehr qualifiziert. Außerdem war ich sowieso vollkommen vereinnahmt von dem Telefongespräch, das der prekär plazierte Herr mir gegenüber mit seinem Schwager führte. Dabei fluchte er gar nicht arabisch oder persisch, sondern äußerte sich ziemlich auf Gutdeutsch. Er sprach auch ziemlich laut. Worum es ging, war mir nicht ganz klar, aber als ich ihn nach seinem Telefonat darauf hinwies, dass er ja ziemlich deutliche Worte gefunden habe, meinte er, das sei die einzige Sprache, die sein Schwager verstünde. Wir kamen ein wenig ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass er die Dame und deren Begleiter mitfahren ließ auf seinem Hessenticket. Die kannten sich also alle nicht. Als er dann eine Cola aus seinem Rucksack hervorkramte, erklärte er mir, dass er die brauche, weil er nicht so gerne Zug fahre. Das sei ihm zu eng und zu viele Leute und so. Das Problem konnte ich teilen. Was das Ganze mit Cola zu tun hatte, hab ich nicht verstanden. Er telefonierte schließlich noch ein paar mal, um irgendjemanden sein Fahrrad von irgendwo nach irgendwoanders bringen zu lassen, das aber so laut, dass Schallwellen und Geruchsmoleküle fortan ein Belästigungsduell miteinander führten. Nachdem er nach Beendigung eines Telefonats plötzlich aufstand und so für eine unerwartete Luftbewegung sorgte, konnte ich seufzend den Sieger ausmachen. Während er weg war, erfuhr ich dann durch arglistiges Belauschen der Zigeunerfrau – ich meine, vielmehr durch geschulte Beobachtungen als neuerlicher Testleiter zur Qualitätssicherung, dass sie dem Deutschen mit arabisch-persichem Hintergrund ganz und gar nicht traue und dass sie und ihr Begleiter sich vor ihm in Acht nehmen müssten. Als sie dann nach ihrem exotischem Mahl meinte „I needs a beer“ und ihr Begleiter ihren Wunsch erfüllte, war ich glaube das erste Mal in meinem Leben neidisch auf jemanden, der ein Bier aus einer PET-Flasche trinkt. Denn das hätte dieser absurden Zugfahrt wenigstens noch etwas Sinn verliehen.

Bildung mag zwar nicht messbar sein, aber im Zug war sie irgendwie fühlbar.

Brustschwimmer sind einfach benachteiligt

Am Mittwoch war ich Schwimmbad unterwegs, um dem Druck der noch zu schreibenden Examensarbeit auszuweichen – mein Gewissen nahms sportlich. Ich schwomm am Rand im Kraulstil, mir eine Bahn sichernd, friedlich vor mich hin, als plötzlich ein Mitfünfziger auf Ärger aus war. Das hab ich zunächst nicht erkannt. Man muss wissen, dass es gerade beim Kraulen am angenehmsten ist, wenn man einfach geradeaus schwimmen kann, da man nicht automatisch nach vorne schauen kann, sondern den Kopf nach oben streckend etwas unnatürlich verrenken muss, um einen Blick zu erhaschen. Nicht dass es unmöglich wäre oder extrem schwierig, es ist einfach auf Dauer belastend und ständig nach vorne schauen geht eh nur effektiv beim Brustschwimmen. Jedenfalls schwamm ich gerade an besagtem mittelaten Herrn vorbei, als der rüber zog auf „meine“ Bahn, mich dabei wohl übersehen hatte und mir brustschwimmenderweise vermutlich unabsichtlich mit der Hand ins Gesicht schlug. Das Wasser dämpfte den Schlag und es war nicht weiter schlimm, also schwimmte ich weiter. Als ich am Bahnende ankam und mich rumdrehte, sah ich noch, dass Herr Brustschwimmer mir meine Bahn streitig machen wollte – was ich doof fand. In der Hoffnung, dass er das nur noch nicht richtig bemerkt habe, schwamm ich weiter auf der Bahn. Im letzten Moment – man sieht beim Kraulen ohne besagte Kopfanstrengung geschätzte vier Meter weit nach vorne – wich ich ihm aus, er berührte mich mehrmals, was ich merkwürdig fand, aber da ich schwimmen wollte, schwamm ich weiter. Und da ich geradeaus schwimmen wollte, suchte ich mir ne andere Bahn in der Mitte. Nach weiteren 100 Metern am vorderen Beckenrand angekommen, maulte mich eine erboste Stimme an, kurz bevor ich wieder abtauchen wollte. Ich stoppte, schließlich hatte ich Wörter wie „Nötigung“, „Straßenverkehr“ und „Bademeister“ vernommen sowie einen Blick, der das Ganze auf mich bezog. Als der Brustschwimmer sich meiner Aufmerksamkeit gewiss war, fing er an, das noch mal in anderer Reihenfolge zu wiederholen, jetzt noch etwas mehr in Rage. Er habe mich vorhin mehrmals angesprochen (er meinte wohl die High-Noon-Situation auf der Außenbahn, wo ich ständig Wasser um meine Ohren hatte) und fände mein Verhalten eine Unmöglichkeit und wenn das noch mal vorkäme, werde er den Bademeister „einschalten“. Ich glaub, ich war auch sauer, aber mehr so aus emotionaler Reaktion, hab glaube aber nichts Schlimmes gesagt. Er wiederholte seinen Standpunkt und als mir das Ganze zu redundant wurde, sagte ich, dass ich einfach nur schwimmen möchte, er den Bademeister ruhig holen solle und ich mich jetzt verabschieden würde. Das war mir echt zu blöd, also schwomm ich weiter meine Bahnen, jetzt in der Mitte, direkt neben dem Brustschwimmer; die Außenbahn war übrigens von da an einsam mit sich selbst beschäftigt. Wegen der widrigen Störmungsverhältnisse hätte ich den Brustschwimmer übrigens später beinahe tatsächlich touchiert, aber irgendwie passierte nichts weiter. Unter Dusche dann trafen wir uns wieder und er wirkte in Angesicht meines wenig gestählten Körpers etwas irritiert, schließlich hatte er einen durchtrainierten und daher arroganten Schwimmer erwartet, vermute ich. Auf dem Parkplatz stiegen wir was zeitgleich in unsere nebeneinander geparkten Autos und ich dachte nur, dass ich nicht hinter ihm fahren wollte. Also beeilte ich mich und rammte dabei fast ein anderes Auto…

Schon krass, was bei so ein bisschen Schwimmen passieren kann. Ich glaube, dass der Herr Brustschwimmer schon morgens beim Aufstehen gedacht hat, er wolle heute ins Schwimmbad, um ein bisschen Krawall zu suchen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass er alle Zeichen als gegen ihn gerichtet deutete und mir nicht nur die erste Bahn sondern kurz drauf auch die mittlere Bahn streitig machen wollte. Dabei hat er einfach nicht verstanden, dass Rückenschwimmer nie, Kraulschwimmer selten und nur Brustschwimmer kontinuierlich beim Schwimmen nach vorne schauen. Das hat wenig mit Arroganz und viel mit der Sportart zu tun…

PS: Was für eine romantische Vorstellung, der Bademeister sei der letzte Hüter von Recht und Gerechtigkeit im Becken der Anarchie. Bringt dem Beruf grad noch ein bisschen mehr Glanz entgegen.

3 Parteien

Heute war ich mit einem Freund in Gießen in der Fußgängerzone, um Kaffee zu trinken. Spontan entschlossen wir, die dort anwesenden Parteistände zu befragen, warum wir deren Partei wählen sollten. Als erstes gingen wir zu den Grünen, denen wir beide zunächst am ehesten zugetan waren. Die Frau, die dort Windmühlen bastelte, enttäuschte uns allerdings, als sie uns sagte, dass sie gegen diese „Atomdings“ seien. Ich fragte dann nach, wie die Grünen sich zum Thema Bildung verhalten würden und als nur ein „Ähmm“ und dergleichen kam und ich meine Frage konkretisierte, ob denn Bildung Länder- oder Budesssache sein solle, fragte die windmühlenbastelnde Frau den langbärtigen Mann, was denn der Tom dazu gesagt habe. Thomas, damit war der Spitzenkandidat der Grünen gemeint. Der fand, das sei Bundessache, meinte der Bärtige, woraufhin die Windmühlenbastelnde meinte, das sei Bundessache. Daraufhin gingen wir etwas resigniert zum Stand der SPD, wo wir einen alten, guten Bekannten aus AStA-Zeiten trafen. Der erzählte uns ziemlich viel Ehrliches über seine Sicht auf die Wahl und die Chancen der Vorhaben der SPD. Das Gespräch war länger und gut. Nach kurzem Zwischenstopp auf dem Gästeklo von Horten stießen wir auf den Stand der Piratenpartei. Dort fragte ich mich durch einige komplexere Themen durch. Als Fazit kam dabei heraus: Der Mann von der Piratenpartei sieht zwar die Gefahr, dass kleinere Verlage unter der „OpenAccess“-Forderung der Piraten leiden würden, aber dieser Umstand mehr oder weniger dem Strukturwandel geschuldet sei, der mit der Entwicklung des Internets einhergehe. Außerdem sei es doch gar nicht so schlimm, ein Interview für die Junge Freiheit zu geben. …

Nach diesem Tag bin ich unentschlossener als zuvor, wen ich wählen soll. FDP und CDU/CSU kommen von vornherein nicht in Frage. (Obwohl ein Repräsentant bei der FDP eher visuell sich als LINKE-Kandiadat präsentierte, sind beide Parteien inhaltlich tabu.) Piraten haben sich durch ihre Aussagelosigkeit zu manchen Bereichen disqualifiziert, bleibt also nur noch die windmühlenbastelnde Grüne oder der ehrliche Sozialdemokrat… Wobei die Sozialdemokratie sich selbst nicht wählen mag.

So schwer ist mir noch keine Wahlentscheidung gefallen.

Ein beunruhigendes Video

Zuerst der Hinweis, später vielleicht mehr.

UPDATE:
Auf Spiegel ist jetzt noch ein Artikel dazu erschienen, in dem auch die verschiedenen Quellen ganz gut aufgelistet sind.

Ich  war ja schon das ein oder andere Mal auf verschiedenen Demonstrationen in Gießen, Mannheim, Frankfurt und einmal auch in Wiesbaden. Dort war damals die Dingfestmachung der Studiengebühren im hessischen Landtag (=3. Lesung), wo ein Freund und ich es tatsächlich geschafft hatten, unter Personenschutz durch die Polizei innerhalb der Bannmeile einen Kaffee bei Starbucks zu trinken – während eine mittelgroße Gruppe von Studierenden um die Bannmeile herum demonstrieren ging. Als der Demo-Zug sich näherte, bekamen es die Polizisten ein bisschen mit der Angst zu tun, die Horde würde zu uns stoßen wollen, sodass wir angehalten wurden, den Kaffee schneller zu trinken…

Naja, noch ne halbe Stunde vorher, als der Demotrupp noch an einem Eingang zur Bannmeile Krawall gespielt hat (sie waren nur laut und haben irgendwelche Sachen gerufen und ein bisschen am Metallzaun gerüttelt), waren hinter der Eisengitter-Absperrung einige Polizisten postiert, sowohl zur Abschreckung aber auch bereit für den Ernstfall, wie auch immer der ausgesehen hätte. Dabei war ein Hund mit seinem Führer, beide gingen hinter der in einer Reihe am Zaun postierten Beamten entlang, als der Hund auf einmal austickte und eine Polizistin ansprang und biss – ich glaube, zum Glück nur in die schwere Uniform, zumindest war es eher Schrecken und weniger Schmerz, der im Gesicht der Frau zu lesen waren. Jedenfalls ist der Hund einfach so ausgetickt, war wohl mit der Lautstärke zu stressig, was ich ja verstehen kann.
Was ich nicht verstehe ist, warum die Polizei Hunde mit auf Demos nimmt, auch wenn es ausgebildete Hunde sind.
Ein weiteres Beispiel war in Gießen, als der Demonstrationszug tendenziös Richtung Autobahn marschierte. Eine Hundertschaft riegelte die entscheidende Kreuzung mittels einer spontanen Beamen-Kette ab. Ein Hundeführer ging mit seinem Hund quer zur Reihe. Er hat den Hund ganz klar zur Abschreckung vor der Absperrung „spazieren geführt“, ein Demonstrationsteilnehmer wäre dabei beinahe gebissen worden, weil der Führer den Hund nur schwer unter Kontrolle halten konnte.
Beide Situationen waren vermeidbar, die letzte unverantwortlich. Gerade in solch hitzigen Momenten wie Massenaufläufen ist es wichtig, die Kontrolle über sein Verhalten zu bewahren.

Der ins Gesicht schlagende Polizist hatte die Kontrolle offenbar nicht. Sein Verhalten hat mich stark an das eines Hundes erinnert, dem der ganze Krach und die vielen Menschen einfach zu viel werden und austickt. Jetzt suggeriert der Spiegel-Artikel, der Demoteilnehmer sei zusammengeschlagen worden, weil sich einzelne Polizisten von einer möglichen Anzeige bedroht gefühlt hätten. Das würde bedeuten, dass die sich den Typen aus Berechnung geschnappt hätten. Ich glaube aber, da ist einfach jemand ausgetickt, weil es ihm zu viel wurde, weil der Typ den Anweisungen nicht genau Folge geleistet hat oder warum auch immer. Zum Glück waren die Demonstranten dort scheinbar nicht gewaltbereit, sonst wäre das womöglich böse ausgegangen.

PS: Ich bin ja mal gespannt, wie viele Leute die Piraten am 27.09. wählen…

Entschlossene Langsamkeit

Hab eben beobachten können, wie eine Schwanenfamilie die Straße überquert (übrigens um zum Schwanenteich zu gelangen). Die Überquerung hat etwa drei Minuten gedauert und die heranrasenden Autofahrer mussten anhalten und warten. Die Schwäne sind so langsam über die Straße gewatschelt, als wollten sie die Autos provozieren.
Ich musste dabei an Die Entdeckung der Langsamkeit denken, in der die Kunstfigur eines John Franklins genau so beschrieben wird, während er über Deck geht. Weil er langsam ist in allem, kriegen die anderen auf dem Schiff eben sehr schnell raus, dass sie ihm ausweichen müssen.
Der wichtige Gedanke dabei ist, dass das Entscheidende nicht die Geschwindigkeit ist, mit der man etwas tut, sondern die Entschlossenheit…

Automat

War gerade noch mal im Freibad schwimmen, um es zum letzten Mal diese Saison im Freien zu genießen. Da ich meine ermäßigte „Karte“ – in Wahrheit handelt es sich um einen RFID-Chip, der in einem 5-Mark-Stück-großen, roten, runden Plastikchip sitzt – beim letzten Mal verbraucht hatte und dieser der Automat automatisch eingezogen hatte, wollte ich mir heute einen neuen ermäßigten Chip kaufen. Übrigens ist es nicht möglich, einzelne Ermäßigungen zu bekommen,  man muss immer mindestens fünf auf einmal bezahlen (=6,40€). Dass das Schwimmbad zwei Tage später zumacht, war mir egal, kann ich ja noch nächste Saison benutzen, dachte ich. Tja, das dachte ich, während ich vor dem unbesetzten Kassenhäuschen stand… – nachdem ich ne Weile dachte, dass auch Kassierer aufs Klo müssen, betätigte ich die Klingel für die Fernsprechanlage und schilderte der fragenden Stimme, das Kassenhäuschen sei nicht besetzt. Die wieß mich dann auf den Bezahlautomaten hin, den ich bis dahin tatsächlich übersehen hatte. Auf meine bedankende Schlussbemerkung, dass ich ja ermäßigten Eintritt bekäme, offenbarte mir der Lautsprecher, dass dies am Automaten nicht möglich sei (was ich insofern verstehe, als dass ich ihm zwar meinen Ausweis vor den Bildschirm halten könnte, ich aber andererseits froh bin, dass noch keine intelligenten Scanner für sowas im Einsatz sind). Ermäßigte Karten könne man nur kaufen, wenn die Kasse besetzt sei. Auf meinen Hinweis, laut Beschilderung sei ich zu einer Uhrzeit an der Kasse, an der sie besetzt sein sollte, wurde ich darauf hingewiesen, dass wegen fünf Badegästen die Kasse nicht besetzt werde. Prinzipiell fand ich das ja verständlich – wenn damit nicht ausgeschlossen worden wäre, dass ich weder ermäßigten Eintritt bekäme, noch den Euro für den Spint mir hätte wechseln können, noch das 20-Cent-Stück, welches für die warmen Duschen benötigt wird… Also fing ich kurz an zu disktuieren, nachdem sich das Gespräch aber – ähnlich wie mit Wachtmeistern – im Kreis drehte, ließ ich dem Lautsprecher gegenüber die Bemerkung fallen, dass Diskutieren offensichtlich nichts bringe, ich das alles dämlich fände und bedankte mich höflich (wohl nur höflich und weniger ehrlich) und steckte die 2,40€ in den Automaten und die durch Wut und Unverständnis aufgeladene Energie in die folgenden 2200m…

Abgesehen davon, dass ich mich in dieser kurzen Erzählung in einer Welt voll Grausamkeit als den Entrechteten schlechthin darstellen möchte, gehts mir um Folgendes: Ich finde es krass, dass sich eine Entwicklung bestätigt, möglichst viel zu automatisieren. Eine Folge, die ich heute selbst gespürt habe, ist, dass eine ehemals selbstverständlich von einem Menschen besetzte Kasse nur noch als kulanter Zusatz-Service zum Automat verstanden wird. Wer dann irgendwelche Bedürfnisse hat, die nicht ins automatisierte Schema passen, hat gelitten, bzw. hat zu leiden. Ähnliches Prinzip befürchtet sich beim mittlerweile automatisierten Rückmeldesystem an der Uni Gießen zu entwickeln, wo man mittlerweile im Idealfall nur noch was mit Scannern und Druckern zu tun hat, um die benötigten Unterlagen zu bekommen.

Den Bogen weiter gespannt sei noch zum Schluss der Hinweis gestattet, dass man nicht automatisch Maschinen benötigt, um Automaten herzustellen. Bestes Beispiel ist die Umsetzung der Modularisierung von Bildung, die zuweilen dazu führt, dass sich eine Logik automatisiert, die nichts mehr mit Realität zu tun hat oder vielmehr: eine Logik, die sich eine eigene Realität schafft. Hab ich heut morgen wieder gedacht, als ich mitbekommen habe, mit welchen Problemen sich einige meiner Hauptschüler rumschlagen (wörtlichst). Das Ausbildungsmodul Erziehen, Beraten, Betreuen kann jedenfalls trotz schicken Titels mir nicht mehr Ratschläge geben, als: Machense doch mal Gruppenarbeiten im Unterricht… (Achtung: Zynische Polemik!) Es tut aber so, als könne man nach dem Besuch erziehen, beraten und betreuen. Probleme, die über den Zuständigkeitsbereich eines Moduls hinausgehen, haben ja rein technisch betrachtet dort jeweils keinen Platz. Zum Glück sitzen aber manchmal Menschen in den Modulen, die nicht nur Routine automatisch abspulen…

Bach, Mendelssohn-Bartholdy und ABBA

Heute habe ich Dank eines Hinweises eines Freundes an einer musikalischen Orgel-Radtour teilgenommen. Gestartet hat das Ganze in der Kirche am Kirchberg in der Nähe von Lollar. Dort spielte der Busecker Dekanatskantor verschiedenste Stücke, die meisten haben mir ganz gut gefallen. Ich hab Orgelmusik auch schon immer irgendwie faszinierend gefunden, nicht erst seit „In the Garden of Eden„, auch schon früher in Wissenbach, wo wir – wenn ichs nicht total verpeile – eine pneumatische Orgel haben, was zu den sonst üblichen mechanischen eher selten ist. Jedenfalls spielte der Dekanatskantor zunächst Bach, dann Pachelbel, später auch was von Wagner. Als dann nach geschätzten 20 Minuten ein Notenbuch auf die Notenhalterung der Orgel gelegt wurde, auf dem in großen goldenen Buchstaben das Wort „ABBA“ zu lesen war, war ich zunächst verwundert, später dann ziemlich angetan von dem durch Wäscheklammern im Buch markierten „Medley“. Zwar mag ich ABBA-Musik nicht unbedingt allzusehr, allerdings war da so ein kurzes Gefühl, dass in dieses heilige Gebäude ein bisschen mehr Wahrheit reingelassen wurde…

Wir fuhren dann per Rad nach Mainzlar in eine sehr kleine Kirche, in der neben älteren Orgelstücken – darunter Ach wie flüchtig, ach wie nichtig von Georg Böhm, was mit seinem vorreformatorischen Gesangs-Intermezzo schon einem ein Gefühl dafür hat geben können, wie man sich fühlt, wenn man überall nur vom Fegefeuer hört – zum Ende auch ein Akkordeon zum Solo-Einsatz kam. Ziemlich beeindruckend, was aus so einem Ding rauszuholen ist. Vom Klang natürlich nicht so kraftvoll wie eine Orgel, aber tänzerischer … Tanzende Orgel wäre vielleicht ein gut beschreibender Begriff. Jedenfalls waren sowohl die klassisch europäische Musik als auch der argentinische Tango hörenswert.

Wir fuhren dann nach Treis. Dort hörten wir wieder diverse Adaptionen wie bspw. von „In dir ist Freude“ oder „Danke für diesen guten Morgen“, welches als „Eine kleine Dankmusik“ mit Mozart-Klängen vermischt wurde. Ganz ok eigentlich, bis auf das ausgelutschte „Danke für diesen guten Morgen“-Thema halt… Danach gabs dann im Gemeindehaus Kaffee und Kuchen, dann gings zurück.

Auf der Rückfahrt hab ichs dann auch tatsächlich geschafft, mit meinem Mountainbike samt Clickpedalschuhen an einer Straße mitten in den Fahrradpulk zu geraten und klinkte dann schnell links aus, weil links aber plötzlich alles voll war, musste ich mich nach rechts auf den Boden fallen lassen. Das Lachen des älteren Herrns mit dem motor-betriebenen Fahrrad, den ich zuvor am steilen Berg mit den Worten „Das ist aber gefuddelt!“ überholt hab, fand glaube ich nur in meinem Kopf statt… (So ein Motor-Fahrrad ist schon geil irgendwie – der ältere Herr fuhr so leichtfüßig in akzeptabler Geschwindigkeit bergauf, das sah einfach cool aus. Ich überlege derzeit, mir nen Motor an mein Hardtail zu installieren…) Aber die Leute waren glaube ich ehrlich besorgt. Zum Glück ist mein rechtes Knie aber eh schon kaputt, trotzdem ist Hinfallen mit dem teuersten, pardon: zweitteuersten, Fahrrad einfach uncool.

Nächste Woche ist wieder sowas, vielleicht hab ich ja noch mal Bock drauf. Die Orgel ist einfach die Königin der Instrumente.

Psychologie eines Klodiskurses

Am Donnerstag traf ich mich an der Uni mit Björn zum Schachspielen, als ich mal gemütlich ausführlich aufs Klo musste.  Als ich so „uffem Schacht“ saß, las ich mir den angeregt geführten Klodiskurs an der Tür durch, der in etwa davon handelte, dass ein vormaliger Besucher zunächst pauschal alle Studentinnen als Prostituierte bezeichnete, da sie sich für Scheine (und er erwähnte extra auch die Seminarscheine) den Professoren anbieten würden. Der nächste forderte auf, Namen zu nennen und nicht bloß bei unbestimmten Behauptungen also unglaubwürdig stehen zu bleiben, woraufhin der Eingangsschreiber seinen Vorwurf immerhin auf den Fachbereich 06 eingrenzte, wegen der räumlichen Nähe vermutlich nicht Sport sondern die Psychologie meinte. Da schaltete sich auf einmal ein weiterer Debattant ein mit dem Ausruf „Kann man denn hier nicht mal in Ruhe sch*****?!“ Die Antwort kam prompt in Form eines Adorno-Zitats (wie ich mich später von meinem Schachkollegen aufklären lassen musste, peinlich peinlich): „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.
Randbemerkung: Auch Adorno gehörte zu den Leuten, die lieber in etwas anderem groß geworden wären…

Jedenfalls wollte ich nun mein Kabinenbedürfnis zeitgleich mit dem Toilettentür-Diskurs beenden. Als ich gerade im Begriff war, mich des Diskurses zu entziehen, entdeckte ich an der linken Kabinenwand ein Wort, das mir nicht so recht in den Zusammenhang zu passen schien: „Snujer“. Da hatte doch jemand tatsächlich ein Wort hingeschrieben, dessen einzigen Sinn ich entringen konnte, indem ich es als meinen falschgeschriebenen Nachnahmen identifizierte. Verwirrt belustigt las ich mir den ganzen Satz durch … Was ich las, ließ mich die Augen zusammenkneifen (mit dem Schachten wars da übrigens schon längst vorüber): „All The Oles Are Fat, Including The Snujers.“ . Ich muss sagen, dass ich das Dasein dieses Satzes bis jetzt nicht ganz gerafft habe und es als eines der wenigen Mysterien in meinem Leben wohl existieren lassen muss.
Ich werde wahrscheinlich nie herausfinden, was jemanden dazu veranlasst hat, mich an der Kabinenwand in diesen sinnfreien Satz zu bannen. Meine einzige Vermutung besteht darin, dass der Satz, dessen Anfangsbuchstaben der Wörter nochmal extra aufgeführt waren, Teil eines Spielchens war, bei dem zufällig ausgewählten Buchstaben ein logisch richtiger Satz zugeordnet werden musste. Jetzt frage ich mich natürlich, seit wann der Satz schon da stand und ich ihn nicht bemerkt hatte… (Später am Abend bei unseren regelmäßig reaktivierten AKBp-Treffen kamen wir dann auf den Gedanken, dass ich vielleicht während des Studiums jahrelang gemobbt worden bin – es aber nie gemerkt habe…)

Kurz darauf beim weiteren Schachspielen wurden wir von zwei Psychologinnen angesprochen, ob wir nicht Lust hätten, an einem Experiment zur Untersuchung der Sprachwahrnehmung teilzunehmen, als Belohnung gäbe es einen Schokoriegel. Da ich billig zu haben war und Lust auf ein Snickers hatte, stimmte ich zu und ging mit einer der beiden zu einem Büro, während ich sie die ganze Zeit peinlichst auf Hinweise auf Prostitution hin untersuchte – ich konnte nichts dergleichen feststellen.
Im Büro angekommen musste ich mit Erschrecken feststellen, dass auf dem Tisch nur Duplo und Kinderriegel standen; wurde also nichts mit Snickers. Entsprechend unmotiviert begab ich mich an den ersten Test. Dort sollte ich zunächst Buchstaben nach meinen Vorlieben benoten. Also, wenn ich das „O“ besonders mochte (immerhin der Anfangsbuchstabe meines Vornamens), gab ich 9 Punkte, das langweilige „S“ bekam 5 und das komische „Y“ nur zwei Punkte. Das ganze lief am Computer ab in zufälliger Reihenfolge und ich durfte nicht Nachdenken, als ich die Buchstaben bewertete. Beim zweiten Test musste man möglichst schnell wirre Buchstabenkombinationen, also Fantasiewörter einteilen in jene, die mit einem Vokal begannen, und jene, die mit einem Konsonant anfingen, das Ganze möglichst schnell. Danach musste ich noch zwei Mal den ersten Test, also das Buchstabenranking, wiederholen. Zum Abschluss sollte ich dann noch einen kurzen Fragebogen ausfüllen, bei dem mir Fragen zu meinem derzeitigen Selbstwertgefühl gestellt wurden. Also, wie wichtig ist mir, was andere über mich denken; was denke ich, wie viel ich Wert bin und so weiter. Mein Selbstwertgeühl hing immer noch an dem Satz an der Kabinenwand, deshalb waren die Antworten nicht ganz so arrogant wie sonst. Nach dem Fragebogen war die Untersuchung dann auch schon fertig und ich durfte mir einen der beiden Schokoriegel für meine Mühen aussuchen (Stichwort: Prostitution im Fachbereich 06). Ich lehnte dankend ab.
Beim Rausgehen teilte die wissenschaftliche Mitarbeiterin mir dann wenig überraschend die Auflösung des Ganzen mit: „Jetzt kann ichs dir ja sagen, das Ganze hatte nichts mit Sprachgefühl zu tun. Es ging viel eher darum, zu untersuchen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Vorliebe für den eigenen Anfangsbuchstaben und der Selbstwertschätzung gibt.“ (Ich glaube, der Begriff dazu wäre Implizite Selbstwertschätzung.) „Beim zweiten Test wurden dir kurze Impulse gezeigt, die du nicht bewusst hast wahrnehmen können, es ging da bei den Vokalen und Konsonanten nur um deine Afmerksamkeit. Die Unteruchungsmethode ist allerdings umstritten, aber anders kann man es ja auch nicht messen.“ Ich überlegte kurz, ob ich sagen sollte, dass ich das „O“ zwar außerordentlich gut bewertet hatte, meinen Selbstwert aber vor allem situativ bedingt eher etwas weit unten angesiedelt habe.
Mit einem schlechten Gewissen, hier gerade jemandem die Promotion versaut zu haben, verließ ich die Psychologie und wandte mich wieder dem Schachspielen zu. Das Spiel gewann ich natürlich und Snickers und Klospruch waren wieder kompensiert – in da Face, Björn! Ich bin der Tollste!

Als wesentliche Erkenntnis aus diesem psychologischen Diskurs nehme ich also mit: Die beste Waffe gegen Mobbing ist mangelnde Wahrnehmung, der Begriff „Schokoriegel“ ist je nach Giergrad unterschiedlich interpretierbar und Prostitution findet weniger durch die Psychologinnen selbst als vielmehr durch die Psychologie als Wissenschaftsdisziplin statt, indem sie versucht, Erkenntnisse durch pseudo-naturwissenschaftliche Messmethoden zu erzeugen und sich so möglichst billig an die Wahrheit zu verhökern (zum Glück ist die Wahrheit aber integer).

Die Westerwelle-Connection

Ich war gestern mit dem Fahrrad in der Stadt, um einige kleinere Dinge zu erledigen. Ich entschied mich, noch schnell bei Aldi etwas Waschmittel zu besorgen und wollte gerade vom Marktplatz auf den Kirchplatz einbiegen, als eine Veranstaltung mit etwa 300 Leuten das Weiterfahren verhinderte: Auf einer Bühne stand Guido Westerwelle an einem Rednerpult und redete zu einer farblosen Menge politisch klingende Sachen.

Neben ihm standen der hessische FDP-Chef Jörg-Uwe Hahn, der nur selten zu Westerwelles Worten applaudieren konnte, weil er seiner Wichtigkeit durch die ständige Benutzung seines Blackberrys Ausdruck verleihen wollte, Silvana Koch-Mehrin, deren recht hübsches Gesicht auf nahezu allen FDP-Plakaten zu sehen war, als wolle die FDP allen zeigen: „Wir sind nicht (nur) schwul!“, sowie ein für mich unbekannter Europagewählter und am Schluss der Reihe Hermann Otto Solms, ehemaliger Bundestags-Vizepräsident, der meine Erinnerung schmunzeln ließ: Ich hatte in dessen Sekretariat Anfang 2005 angerufen, um ihn spontan auf eine Podiumsdiskussion einzuladen (Hochschulen im Wettbewerb), wo Nelson Killius sich einen Killius geleistet hatte und uns 3 Tage vor Termin nach monatelanger Zusage agesagt hatte und somit ein neuer neoliberaler Part besetzt werden musste. Für den war aber einfach kein Ersatz zu finden, sodass ich in absoluter Verzweiflung im Büro von Hermann Otto Solms anrief und eine seiner Sekretärinnen bat, ihn anzufragen, ob er in drei Tagen nicht Lust habe, nach Gießen zu kommen und an einer Diskussionsrunde teilzunehmen. Sie versprach mir, ihn zu fragen und mich zurückzurufen, sobald sie eine Antwort habe. Sie rief mich dann tatsächlich zurück, um mir seine Absage mitzuteilen, was ich sehr nett fand.

Nach einem kurzen Flashback schob ich mein Fahrrad zwischen vereinzelt rumlungernden Polizeibeamten hinter der Bühne vorbei und wollte gerade wieder weiterfahren, als mir in der Menge das einzige Transparent ins Auge stach. Es war weiß und mit roter Schrift forderte da ver.di den gesetzlichen Mindestlohn, befestigt an je einer Dachlatte, um es weit über die Köpfe der Menge in den Himmel halten zu können. Nicht nur farblich und inhaltlich fiel es auf, es war auch überhaupt das einzige Message-Utensil in der Menge – keine FDP-Fähnchen oder -Schilder zum Hochhalten waren zu sehen, gelbe FDP-T-Shirts waren nur auf der Bühne sichtbar bei einer Reihe von jungen Partei-Zinnsoldaten, deren interessante Aufgabe es zu sein schien, die Emotionen, die Westerwelles Rede an bestimmten Stellen hervorrufen sollte, für die Menge sichtbar darzustellen und umso heftiger zu applaudieren je mehr entschlossenes Handeln gerade über die Lautsprecher gefordert wurde. Jedenfalls dachte ich mir, dass ich vielleicht den ein oder anderen derer kenne, die sich dort unter dem ver.di-Transparent versammelt hatten, also ging ich hin. Und tatsächlich wurde der rechte der beiden Stöcke von einem guten Freund gehalten, den ich schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte. Ich gesellte mich zu ihm und stellte mich mittig unter das Banner. Wir begannen ein etwas längeres freundschaftliches Gespräch. Dabei erzählte er mir, dass vorhin eine Gruppe von Aktivisten, die sich nun unter dem Transparent wieder gesammelt hätten, sich auf den hinter der Bühne befindlichen Kirchturm begeben hätten, um ein anderes, größeres Banner zu entrollen. (Eine äußerst bemerkenswerte Randpointe: Als ich fragte, was denn dort drauf gestanden habe, musste sich erst durch drei der Entroller durchgefragt werden, bis mir der Spruch genannt werden konnte. Es war irgendwas mit „Kapitalismus„, ich habs vergessen. Es war einigen sichtlich peinlich, dass sie mir nicht sofort die genaue Botschaft nennen konnten.) Bei der Aktion hätten sie sich, um auf den Kirchturm zu gelangen, als Geographiestudenten ausgegeben, die Stadtvermessungen vornehmen wollten. … Naja, auf jeden Fall bekamen sie so gegen 10€ Pfand den Schlüssel vom Wärter, der sich, nachdem der Trupp unter Polizeibegleitung vom Turm geführt wurde, entrüstet gezeigt habe: „Das hättet ihr mir doch sagen können!“ Seine Worte klangen beinahe so, als hätte er mitgeholfen, wenn ihm der Sinn der Aktion bekannt gewesen wäre. Die 10€ Pfand bekamen die Störenfriede selbstverständlich zurück…

Jedenfalls stand ich nun unter dem ver.di-Transparent neben meinem Freund und als wir nach einer längeren Plauderei gerade dabei waren, einen Termin zum Kickern auszumachen, um dabei ein Bier zu trinken, wurden wir von Guido Westerwelle am Rednerpult jäh unterbrochen – und einer Menge feindseliger Blicke, die sich zu uns umdrehten und uns Dinge wie „Jawoll, so sieht nämlich die Wahrheit aus!“, „Du hast keine Ahnung, der weise Mann da vorne hat dir gerade gezeigt, wo’s intellektuell langgeht!“ oder auch einfach nur „Abschaum!“ entgegenschauten. Es war einfach krass zu sehen, wie aggressiv Blicke sein können. Auch die Partei-Zinnsoldaten schauten uns grimmig, fast mordlüstern von der Bühne an und schienen nur auf die nächste passend intonierte Stelle in der Rede zu warten, um uns mit Gewehrsalven ihres Applauses niederzumähen. Es dauerte eine Weile, bis sich die Blicke der anderen etwas beruhigt hatten und sich dem Redelsführer wieder zuwandten. Am meisten ärgerte mich, dass wir durch diese Unterbrechung beinahe vergessen hätten, einen Termin zum Kickern auszumachen, glücklicherweise erinnerten wir uns aber wieder daran, bevor ich nach einer kurzen Weile wieder ging, sodass uns kein Schaden entstand.

Noch eine Randpointe fand dann unterwegs zu Aldi in meinem Kopf statt: Es war natürlich bei der ganzen Veranstaltung auch die Presse anwesend, so auch ein Kameramann vom hessischen Rundfunk. Der hielt irgendwann, als ich so hübsch mittig unter dem ver.di-Transparent stand, mitten auf uns drauf, sodass ich dachte: „Mensch, ich bin bestimmt heut Abend in der Hessenschau!“ Dann erinnerte ich mich an die Aktion mit dem Banner, das vom Kirchturm entrollt wurde, bei der auch von der Polizei einige Personalien aufgenommen wurden und ich dachte: „Hm, wenn der Hessenschau-Bericht nun von ‚Krawallmachern‘ spricht und dazu dieses Bild zeigt, dann könnte ich kommende Woche in der Schule in Rechtfertigungsschwierigkeiten kommen.“ … Der Bericht in der Hessenschau fiel allerdings langweilig aus: In etwa 30 Sekunden wurde nur kurz die Bühne gezeigt und für etwaige Störungen oder andere Meinungen war kein Platz. Schade.

Ein einsamer Gedanke zum Schluss: Die ca. 55-jährige Kassiererin, die mein Waschmittel schließlich abbuchte, zeigte sich ziemlich unbeeindruckt von meinen Gedanken zu FDP, Mindestlohn und Kapitalismus. Ich habe den Eindruck, dass es eher irgendeine persönliche Scham ist, die sie mit ihrer intensiven Bräunungscreme und den wasserstoff-blondierten Haaren zu übermalen versucht.