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druckschrift.net Beiträge

Antarifa

Neulich im Elektromarkt, ich stand an der Kasse, da präsentierte sich mir auf Augenhöhe ein kleiner Verkaufsständer. Daran hingen alle möglichen Buttons, die irgendwie politisch oder subkulturell angehaucht waren, aber doch deutlich nur Beiwerk sein wollten. Ich staunte nicht blöd, als ich mir einen Ataributton näher anschaute: Unter dem Firmenlogo stand nämlich nicht Atari sondern Antifa. Interessant ist, dass die Firma Atari, die sich auf Videospiele spezialisiert hat, eine (kurze) Geschichte hat, mit der ein gewisser Kultstatus verbunden ist. Der Bezug zu antifaschistischem Engagement, über dessen Art man zweifelsohne streiten sollte, wurde mir allerdings in der Schlange stehend nicht so ganz klar. Stattdessen lärmte in meinem Ohr eine Zeile aus einem „But Alive“-Song: „Die allergrößte Scheiße heißt: unpolitisch.“ Aber zum Glück ist Kult ja immer schick. Und so ein witziger Button hat ja auch was. Wenn schon keine Aussage, dann doch wenigstens Style. Ob sich der Schwarze Block wohl Message-Buttons bei Media-Markt kauft, bevors auf die G8-Demo geht?

District 9

Hab gestern den viel gelobten Film District 9 gesehen. Das Einzige, was mir gefallen hat, war, dass die Apartheid und die damit verbunden Zwangsumsiedlung von Schwarzen thematisiert wurde. Darüber hinaus war die Geschichte doch irgendwie schwach. Die Hauptfigur (der Mutant) war wenig nachvollziehbar, weil er zunächst feige und opportunistisch, dann mutig und entschlossen (bei der Stürmung der MNU-Zentrale) und dann wieder feige, als er seinen Alien-Freund im Stich lässt und dann wieder doch nicht, weil er sich für das Gute entscheidet und bereit ist, heldenhaft zu sterben. Die Einsicht des Charakters, wie richtiges Handeln ausschaut, findet also zwei Mal statt und das ist doch wenig glaubwürdig. Abgesehen davon war die Kamera zu Beginn im Live-Doku-Style, später dann immer noch ein bisschen, ohne dass es eine Dokumentation sein konnte. Und schließlich macht es keinen Sinn, dass die Aliens einersteits ein bisschen als führungsloser Arbeiterstaat – wie Ameisen oder Bienen, nur eben ohne Schwarmintelligenz – dargestellt werden, (vermutlich um die Selbstaufgabe im Slum-Leben und die Nichtbenutzung der Alien-Waffen zu rechtfertigen,) andererseits aber individuelle Charaktere sein sollen, die alles für ihren Nachwuchs tun und über einen langen Zeitraum an einem Fluchtplan tüfteln.

Aber vielleicht war ich auch nach bestandenem 2. Staatsexamen einfach nicht in Stimmung, einen Dystopie-Film zu schauen.

Im Schwitzkasten des Zeitdrucks

Neulich wurde auf dem Geburtstag meines Vaters ein Gespräch über die schwierigen Bedingungen, unter denen Lieferfahrer arbeiten müssen, geführt. Vor allen Dingen der Zeitdruck könne dabei an so manchem Nervenkostüm nagen, so der Einblick von Betroffenen. Durch das Gespräch fühlte ich mich an einen Vorfall erinnert, in den ich vor ein bis zwei Jahren verwickelt war:

Innehalten ohne Wachstumsangst

Das Gezeter um die Aschewolke des isländischen Vulkanausbruchs hat gezeigt, dass unsere Gesellschaft kaum in der Lage ist, einfach mal eine Pause zu machen. Das liegt wohl an einer für viele selbstverständliche Wachstumsmaxime (China), die das Denken auch sehr unbewusst bestimmen kann. Dabei darf man mit Sicherheit die Frage stellen, ob das Wachsen tatsächlich die sinnvolle Art von Fortschritt ist. Wohlstand ohne Wachstum, so lautet ein lesenswerter  Spiegel-Artikel über eine wirtschaftlich alternative Denkweise.

Der Presseclub, den ich gerade schaue, redet über die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen zur Stützung der griechischen Wirtschaft. Und so richtig ausgestanden ist die Finanz- und Wirtschaftskrise der jungen Zeit ja auch noch nicht. In diesem Zusammenhang ist im Rahmen einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik immer wieder von Gier die Rede. Ich finde dabei weniger die Gier entscheidend, weil ich glaube, dass dahinter eher eine unscheinbare Angst steht, nicht hintenanstehen zu wollen – bedingt durch ein Konkurrenzdenken, das nur Wachstum als Maßstab kennt.

Mein Fazit aus der „Vulkankrise“ ist weitreichender: Stillstand ist Rückschritt? Innehalten wäre ein Anfang.

Die Kunst, ein Opfer der Kunst

Beim Leesen eines Artikels auf zeit.de bin ich auf Jonathan Meese aufmerksam gemacht worden, bei dem ich zunächst an eine Vereinigung von Helge Schneider und Jonathan Davis denken musste. Seine Vision einer Diktatur der Kunst, in der es niemals Opfer gäbe, stellt er in einen Gegensatz zur „Menschenmachtsrealität“. Ich glaube aber, dass er das Kindische überhöht: Er küsst Heidegger lieber, als dass er ihn liest, kritzelt in Büchern rum und erklärt, es sei weder Assoziation noch Improvisation, was er tut… Wenn ichs recht begriffen habe, ist sein Leben für ihn ein andauerndes Spielen mit der Realität. Wenn man seiner Vision folgen würde, opferte man die Realität für die Diktatur der Kunst und aus „Alles ist Kunst“ würde dann ja logischerweise „Nichts ist Kunst“. Ich kann damit ja nicht so viel anfangen. Total wenig, um genau zu sein.

Brot

Beim Surfen habe ich gerade einen nettes Video gefunden: Making No-Knead Bread. Der Hinweis darauf fand sich auf indexhibit.org, klang auch ganz interessant, aber ich hab kein Linux installiert, also werde ich mit schmutzigen URLs leben müssen. Auf indexhibit.org bin ich gestoßen, weil ich auf dieser kleinen Seite ein amüsantes Schriftartensuchspiel gestartet habe. (Das hat mich schwer an Prokrastination erinnert.) Hingeführt wurde ich von typophile.com. Dort war ich wegen eines Forenhinweises zu einem Telepolis-Artikel: Digital ist besser – oder doch nicht? Geklickt hab ich auf den Artikel, weil mich das Thema rund um die Zukunft des Buches sehr interessiert. Was das Ganze mit Brot nunmehr zu tun hat, weiß ich auch nicht, außer dass die Verknüpfungen selbst in Zukunft vielleicht die inhaltlich sinngebenden Zusammenhänge darstellen werden: As We May Think.

Reale Virtualität

Wollte nur mal eben schnell auf das schon seit Wochen durchs Netz schwirrende Aufklärungs-Video, veröffentlicht von WikiLeaks.org, Bezug nehmen: Collateral Murder. Wenngleich ich ohne Frage zustimme, dass unabhängige Medien wichtig sind, so will ich doch darauf hinweisen, was ich vor über einem Jahr bezüglich Call of Duty 4 geschrieben habe:

Die Grenzen zwischen virtuell und real verschwimmen, wenn die einzige Unterscheidungsmöglichkeit die Quelle wird, woher wir die Bilder empfangen.

WikiLeaks funktioniert ja nur dadurch, dass die Informanten anonym bleiben, wie man im Disclaimer nachlesen kann. Das ist ja nicht nur gut sondern auch notwendig für einen Journalismus, der eine Alternative zu den etablierten und womöglich schon zu sehr eingeschliffenen Medien sein will. Allerdings bleibt dann die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Quelle unbeantwortbar, es sei denn, man begnügt sich mit WikiLeaks als Quelle der Glaubwürdigkeit. Es wird eben nur dann gefährlich, wenn man die Informationen nicht eindeutig als virtuell oder real bestimmen kann.

Despair

Auch wenn mir die Selbstinszenierung von The Mars Volta in jüngster Zeit nicht mehr sehr zusagt, wollte ich doch mal auf eine Seite hinweisen, auf der recht gute Musik zu finden ist: http://rodriguezlopezproductions.com/. Achtung, nicht erschrecken! (iPhone-Benutzer dürften ‚Glück‘ haben. – Wird „iPhone“ am Satzanfang eigentlich groß oder klein geschrieben? – Das ist zum Verzweifeln…) Neben ruhigerer Gesangs- und Gitarrenmusik und rockiger Instrumentalmusik ist dort auch ein etwas verunsicherndes Album anzuhören: Despair. Die Liedtitel sind allesamt Rainer Werner Fassbenders Filmen entliehen, musikalisch kann ich sie aber nicht sinnvoll unterscheiden – ok, ich hab nicht alle durchgehört… Auf jeden Fall krass.

Fast so krass, wie das Storybook zu De-Loused in Comatorium, dem ersten Longplayer von The Mars Volta, das den Selbstmord eines Freundes zu verarbeiten sucht und mit folgenden Sätzen beginnt:

Cerpin taxt stood high above the wobbling miscarriage of oncoming traffic, he was weak in the knees. Blackened out of synch knew his time here would soon end with an internal hemorrhaging made aware by the animonstrosity of his frankenstatue presence. No longer would he carry on his shoulders the weight of passion.

Ich finde ja, dass das eine unnötig aufgeblähte Sprache ist, zumindest klingt meine deutsche (rudimentäre Schulenglisch-, Wörterbuch-) Übersetzung so:

Cerpin taxt stand hoch über der wabernden Fehlgeburt des aufkommenden Verkehrs, schwach in seinen Knien. Ungleich verdunkelt wusste er, dass seine Zeit hier bald mit einem inneren Ausbluten enden würde, dessen er durch die Auswüchse seiner frankensteinernen Präsenz gewahr wurde. Nicht mehr länger würde er die Last seiner Passion auf seinen Schultern tragen.

Ok, mag man anders und besser übersetzen können, aber das allein fiel mir schon sauschwer. Und ich frage mich halt, warum man es den Lesern so schwer machen muss. Da ist die Grenze zwischen Geschichtenerzählung und Selbstdarstellung am Verschwimmen. Wenngleich ich die Musik von The Mars Volta schon seit der ersten LP mochte und ich es beeindruckend finde, wie kunstvoll dieses Konzeptalbum arrangiert wurde: Verzweifelte Geschichten kann man besser erzählen. Aber vielleicht gehört das Leiden einfach zum Verstehen dazu…

PS: Es macht Freude, das hier mit Kopfhörern zu hören: A Manual Dexterity: Soundtrack Volume One.

PPS: Vielleicht interessiert hier auch der Hinweis auf einen Film von Omar Rodriguez Lopez: The Sentimental Engine Slayer. Und in Fanboy-Manier gleich ein weiterer Link mit einem Interview hinterher: Q&A with Omar Rodriguez-Lopez.

Die Kunst des Ausklangs

Nachdem ich vor Kurzem erst seit Langem mal wieder im Kino war, bin ich vor noch Kürzerem noch mal wieder hingegangen. Diesmal nicht nach Lich sondern ins Gießener Kinocenter, da lief am Montag Abend Programmkino. Genauer gesagt lief „Die Kunst des Ausklangs„. Ein japanischer Film, der sich mit den japanischen Bestattungsritualen auseinandersetzt. Diese Filmkritik hab ich dazu gefunden:

„Nokan – Die Kunst des Ausklangs“ ragt in genau einer Hinsicht heraus: In der filmischen Darstellung eines traditionellen japanischen Bestattungsrituals.  […] Abgesehen von dem originellen und genauen Blick auf die Rituale um Tod und Trauer bewegt sich die Geschichte auf ausgetretenen Pfaden. […] Mit Abstand am schwächsten ist „Nokan – Die Kunst des Ausklangs“ allerdings immer dann, wenn er witzig sein soll. Die Pointen wirken gesucht, die Erzählweise verkrampft und Masahiro Motoki als Daigo grimassiert als wäre er zwei Rupert Grints. (nachlesen auf filmstart.de)

Ich stimme dem weitestgehend zu, finde aber, dass man die Sache mit dem schlecht dargestellten humoristischen Sezenen relativieren muss. Im ganzen Film hatte ich den Eindruck, dass alles, was irgendwie an emotionalen Regungen dargestellt wird, völlig übertrieben unnatürlich ist. Ich vermute, dass das was mit japanischer Erzähltradition zu tun hat:

Synästhetische Übertragungen sind ein poetisches Stilmittel, wie sie häufig in japanischen Gedichten, insbesondere im haiku zu finden sind. Sie sind jedoch auch wichtig in der Text-Bildrelation, etwa den so genannten Bildrollen (emakimono), oder sie dienen der Konstruktion von emotionalen Bildern, etwa in der von Musik begleiteten biwa-hôshi-Erzähltradition. (nachlesen auf gjf.de)

Aber ich weiß es nicht.

BookCrossing

Gestern Mittag habe ich mich bei strahlendem Sonnenschein auf die Promenade vorm Uni Hauptgebäude gefletzt, um ein wenig in der Öffentlichkeit zu lesen. Als ich wieder genügend Unruhe in mir hatte, stand ich von der Bank auf und wollte gerade zu meinem Fahrrad, als ich unweit von mir in einer Klarsichtplastiktüte ein Buch entdeckte: „Der Ausbrecher“ von George Simenon. Auf dem Buch klebte ein Zettel, der einen einlud, das Buch mitzunehmen, zu lesen und auf ähnliche Weise an einer anderen öffentlichen Stelle zu hinterlassen. BookCrossing nennt sich das Projekt. So kann man denn auch auf der Seite etwas über denjenigen erfahren, der das Buch hinterlassen hat, wenn man selbst oder derjenige es denn will. Oder aber man hinterlässt selbst eine Makierung, wo man das Buch gefunden und wieder freigesetzt hat. Ich musste bei dieser Idee irgendwie sofort an ‚Geocashing‚ denken. Das ist ja irgendwie das Gleiche nur umgedreht: Beim Geocaching steht das Suchen im Vordergrund, bei BookCrossing das Finden. Aber bei beidem gibt es ein Interesse daran, dass man das Such- bzw. Finde-Erlebnis mit anderen via Internetplattform ungezwungen teilt.

Jedenfalls finde ich die Idee nett und da ich Freitag in der Schule eine exemplarische Buchvorstellung machen möchte, scheint sich das geradezu anzubieten.

The Beggar’s Opera

Gestern habe ich ein Theaterstück besucht: The Beggar’s Opera. Das Stück von John Gay war wirklich gut, das Publikum war von Anfang eingebunden; schon bevor es eigentlich los ging, hat es so ein Bettler tatsächlich geschafft, mir ein Hintergrundheft für 3 „Schilling“ aufzuschwatzen, alles auf Englisch – das Aufschwatzen meine ich, das Heft war in Deutsch verfasst und da die ganze Veranstaltung aus studentischen Seminaren hervorging, waren diese Beiträge quasi so etwas wie Hausarbeiten. (Der Bettler war übrigens einer der Seminarleiter und ist ein guter Freund von mir.)  Das Heft war dann tatsächlich auch sehr informativ, schließlich ist der Hintergrund mit der so genannten Südseeblase, einer der ersten Börsencrashs, wichtig, um die Handlung einordnen zu können. Brechts Dreigroschenoper nahm The Beggar’s Opera übrigens als Vorlage und passend dazu folgte im Jahr nach der Uraufführung dann mit dem Schwarzen Donnerstag eine Art Wiederholung der Geschichte. Im eigentlichen Stück, das muss ich zugeben, habe ich übrigens nur die Hälfte gefühlt verstanden, von dem alten, stellenweise deutschakzentuierten Englisch, das die Schauspieler beherrschten. Und langsam war ich auch noch. Das ist dann immer doof, wenn man über nen Witz lacht, wenn das Stück schon fünf Sätze weiter ist…. Aber so manch anderem im Publikum gings genauso.

PS: Nachher hat mich dann der Bettler auf einen Falafel eingeladen.

Die Fremde

Ich komme gerade aus einem guten Film: Die Fremde. (Gesehen im Traumstern-Kino in Lich, das ich seit etwa fünf Jahren irgendwie vergessen habe.) Neben den durchweg überzeugenden Schauspielern – sogar der kleine Junge hat mich überzeugt, wenngleich manche seiner Wortbeiträge schon sehr gewählt waren – hat mir besonders die Musik gefallen. Aber es ist natürlich klar, dass die Sache mit der Ehre kein allein türkisches Problem ist. Trotzdem hatte man einen das Gefühl, eine ehrliche Geschichte zu erleben.

Für mich auf jeden Fall Grund genug, öfter ins Traumstern-Kino zu gehen. Außerdem haben die da ein tolles afrikanisches Restauraunt dran angeschlossen…

Das Netz – ein öffentlicher Ort?

Nachdem sich Facebook mit rund 400 Millionen Nutzern und mehr Seitenaufrufen als Google wohl über lange Zeit ins Gespräch bringen wird (zusammengetragen auf netzsofa.net), hat sich mir die Frage gestellt, wie solche und andere Kommunikationsforen Teil einer neuen Form von Öffentlichkeit sind. Habermas zum Beispiel sieht eine fragmentierte Öffentlichkeit im Netz:

Das Web liefert die Hardware für die Enträumlichung einer verdichteten und beschleunigten Kommunikation, aber von sich aus kann es der zentrifugalen Tendenz nichts entgegensetzen. Vorerst fehlen im virtuellen Raum die funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen, die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren. (nachlesen: Habermas 2.0 – Strukturwandel der Öffentlichkeit reloaded)

Wer ein bisschen Zeit aufbringen will, kann dazu 175 Minuten lang einen Einblick in den Münchner Mediengipfel vom Oktober 2009 nehmen. Dort redet Richard David Precht von Minute 38:41 bis 54:37 in dieselbe Richtung, insbesondere ab 46:40 (krass: individualisiertes Kollektivdasein der vereinzelten Masseneremiten). Eine Gegenposition vertritt Felix Neumann in seinem Blog:

Prechts Politikverständnis ist hoffnungslos veraltet: Für ihn kann strenggenommen nur die Agora in Athen bestehen, denn dort werden wirklich alle Fragen von öffentlichem Belang in einer gemeinsamen Öffentlichkeit diskutiert. Schon vor dem Internet war die Gesellschaft zu groß und zu komplex, als daß man ernsthaft annehmen konnte, daß ein völlig homogener Diskursraum möglich sei. Natürlich ist auch der öffentliche Diskurs arbeitsteilig; zum Glück muß ich nicht am öffentlichen Diskurs über etwa Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (zweifellos ein enorm wichtiges Thema!) teilnehmen. Das »fragmentiert« den Diskurs aber nicht, das segmentiert und ordnet ihn – und nur dank dem Netz kann ich schnell nachlesen, was es damit auf sich hat, und weil das Netz bisher fragmentierte Öffentlichkeiten verbindet, kann ich mich bei Bedarf ungleich tiefgreifender informieren, als das ein Drei-Minuten-Beitrag in der Tagesschau oder ein Zeitungsartikel könnte. (nachlesen: Das Netz integriert Öffentlichkeiten. Gegen Precht)

Tja, da steht man nun und weiß nicht recht weiter. Irgendwie geht es ja bei ‚Öffentlichkeit‘ vor allen Dingen darum, was man annimmt, welche Auffassung andere zu bestimmten Themen haben und welche dieser Meinungen vorherrschend sind und welche Position man selbst zu dieser vorherrschenden Meinung einnimmt. Dass dabei nicht immer die mehrheitlichen Meinungen vorherrschend sein müssen, sondern vielleicht sogar die selbsteingeschätzte Gegenposition mehrheitlich aber nicht vorherrschend ist – dazu braucht man nicht die Weisheit eines Roland Kochs. Nun trägt zu dieser schweigenden Gegenposition vielleicht auch etwas die Anonymität des Lesers bei (dazugehörige These). Für schwerwiegender erachte ich allerdings, dass große Bevölkerungsgruppen einfach nicht teilnehmen am digitalen Austausch. Und wenn man selbst keine Emailadresse hat, womöglich ohne Handy durch die Gegend läuft und nicht über 50 Jahre alt ist, dann ist man absonderlich – so die von mir behauptete öffentlich vorherrschende Meinung. Dass diese Meinung zu kritisieren ist, da werden mir sicherlich die meisten zustimmen… – Wie dem auch sei, was ich eigentlich sagen wollte:

Ob Fora oder Foren: Wo viel Gerede, da ist viel Schweigen.

PS: Das führt weiter weg, ist aber nicht weniger interessant: Ist ein globales demokratisches System möglich?

Kaffeefahrt zur Qualitätsentwicklung: „I needs a beer“

Gestern war ich in Frankfurt beim dortigen Amt für Lehrerbildung, um an einer Testleiterschulung im Rahmen des Instituts für Qualitätsentwicklung teilzunehmen. War an sich auch ganz spannend, bis auf die Schulung. – Geht halt letztlich um Statistik: Objektivität, Validität, Reliabilität. Das Ziel davon ist es, den Schulen Tests zur Verfügung zu stellen, deren Ergebnisse als  nationaler bzw. landesweiter Leistungsvergleich der schulinternen Evaluation dienen sollen. Dahinter steckt der meiner Ansicht nach alte Irrtum, dass Bildung messbar bzw. objektivierbar sei. Nicht, dass keine Bildungsstatisitk Wert besitze, aber ich erachte es als gefährlich, ein Instrument zu entwickeln, das behauptet, endlich objektiv, sprich: „wahrhaft“, einen wie auch immer gearteten Leistungsstand darzustellen. Letztlich ist das die gleiche Diskussion, die sich auch um die Zensuren dreht.

Was dann noch mehr Unmut in mir hervorrief, waren die Kartons mit Testmaterialien, die wir je nach Anzahl unserer Schulbesuche in die Hand gedrückt bekamen. Die konnten wir in vom IQ organisierte REWE-Tüten stecken, sodass wir wie Kaffeefahrtteilnehmer im vollbesetzten Zug aus Frankfurt wegfuhren. Fünf Personen mit 10 Rewetüten belagern sieben Plätze (die Kartons passten nicht in die Gepäckablage). Ich will nicht wissen, was die Leute über unsere Herkunft gedacht haben – dass wir es nötig haben, nach Frankfurt zum Rewe einkaufen zu fahren…

Auf der Fahrt saß ich mit einer Freundin auf einem vollgepackten Viererplatz, als eine Frau mit einer Gruppe Reisender ankam. Sie befahl ihren Begleitern, wo sie sich hinsetzen sollten. Alle wirkten ein bisschen – ich weiß jetzt nicht, wie ich es ausdrücken soll – prekär/bildungsfern/heruntergekommen. (Bei dem Herrn, den sie in unseren Viererplatz plazierte, nachdem wir unsere Kartons auf einen Platz gestapelt hatten, bekam ich nach kurzer Zeit extreme Lust auf alten Käse.) Die dominante Dame, die mich ein bisschen an das Klischee einer älteren Zigeunerin erinnerte, fragte dann unseren neuen Reisebegleiter, während sie ihn hinsetzte, wo er denn herkäme, sie würde einen arabischen oder persischen Hintergrund vermuten. Er kuckte nur ein bisschen komisch und sagte, dass er aus Deutschland komme (Rüsselsheim, wie ich im späteren Gespräch mit ihm erfahren konnte). Die Dame erklärte ihm, dass ihr eigener Freund aus Rumänien komme, das sei ein ganz ausgezeichneter Menschenschlag, und setzte sich zwei Reihen weiter auf ihren Platz. Ich konnte beobachten, wie sie nach kurzer Zeit asiatisches Essen auspackte, das mit seinen süß-sauren Soßen die ohnehin schon exotischen Gerüche im Wagon ergänzte. Sie aß aus einem viergeteilten Plastikteller, als ich mitbekam, wie sie den Preis ihrem Sitznachbarn vorrechnete: „1,60 das hier, 1,70 das und die beiden Soßen je 50 Cent. 3 Euro für einen ganzen Teller, da kann man nicht meckern!“ Ich verkniff einen Kommentar, der zwar vielleicht zu einer Qualitätsentwicklung hätte beitragen können, aber irgendwie fühlte ich mich mit meiner Rewetüten-Armada nicht sehr qualifiziert. Außerdem war ich sowieso vollkommen vereinnahmt von dem Telefongespräch, das der prekär plazierte Herr mir gegenüber mit seinem Schwager führte. Dabei fluchte er gar nicht arabisch oder persisch, sondern äußerte sich ziemlich auf Gutdeutsch. Er sprach auch ziemlich laut. Worum es ging, war mir nicht ganz klar, aber als ich ihn nach seinem Telefonat darauf hinwies, dass er ja ziemlich deutliche Worte gefunden habe, meinte er, das sei die einzige Sprache, die sein Schwager verstünde. Wir kamen ein wenig ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass er die Dame und deren Begleiter mitfahren ließ auf seinem Hessenticket. Die kannten sich also alle nicht. Als er dann eine Cola aus seinem Rucksack hervorkramte, erklärte er mir, dass er die brauche, weil er nicht so gerne Zug fahre. Das sei ihm zu eng und zu viele Leute und so. Das Problem konnte ich teilen. Was das Ganze mit Cola zu tun hatte, hab ich nicht verstanden. Er telefonierte schließlich noch ein paar mal, um irgendjemanden sein Fahrrad von irgendwo nach irgendwoanders bringen zu lassen, das aber so laut, dass Schallwellen und Geruchsmoleküle fortan ein Belästigungsduell miteinander führten. Nachdem er nach Beendigung eines Telefonats plötzlich aufstand und so für eine unerwartete Luftbewegung sorgte, konnte ich seufzend den Sieger ausmachen. Während er weg war, erfuhr ich dann durch arglistiges Belauschen der Zigeunerfrau – ich meine, vielmehr durch geschulte Beobachtungen als neuerlicher Testleiter zur Qualitätssicherung, dass sie dem Deutschen mit arabisch-persichem Hintergrund ganz und gar nicht traue und dass sie und ihr Begleiter sich vor ihm in Acht nehmen müssten. Als sie dann nach ihrem exotischem Mahl meinte „I needs a beer“ und ihr Begleiter ihren Wunsch erfüllte, war ich glaube das erste Mal in meinem Leben neidisch auf jemanden, der ein Bier aus einer PET-Flasche trinkt. Denn das hätte dieser absurden Zugfahrt wenigstens noch etwas Sinn verliehen.

Bildung mag zwar nicht messbar sein, aber im Zug war sie irgendwie fühlbar.

Doppelter Stempeltag

Nachdem ich Freitag im Scarabee und Samstag im MuK war, ist heute ein gleich doppelter Stempeltag. Ein Freund meinte, dass ich, nachdem ich die letzten zwei Wochen intensiv an meiner Examensarbeit gearbeitet hätte, ich mich nun mindestens ebenso intensiv und lange vergnügen könne. (Er selbst war auf Dienstreise in Gießen.) Trotzdem fühle ich mich heute nach ein bis zwei Wodkatonics (aber bitte ohne Zitrone!) doch recht ausvergnügt – Stempeltag halt. Aber es hat sich gelohnt, hab gestern ne ganz coole Band gesehen, die Instrumental-Musik gemacht hat: Increditunes. Leider haben sie keine Studioaufnahmen und somit keine CD, aber die MySpace-Seite ist auch für Außenstehende recht aufschlussreich. Besonders das Basssolo in Minute 5:35 des ersten Videos war auch gestern nicht schlecht:

Jedenfalls gehts jetzt erst mal Duschen, Stempel abmachen, und dann in die UB, arbeiten.

Brustschwimmer sind einfach benachteiligt

Am Mittwoch war ich Schwimmbad unterwegs, um dem Druck der noch zu schreibenden Examensarbeit auszuweichen – mein Gewissen nahms sportlich. Ich schwomm am Rand im Kraulstil, mir eine Bahn sichernd, friedlich vor mich hin, als plötzlich ein Mitfünfziger auf Ärger aus war. Das hab ich zunächst nicht erkannt. Man muss wissen, dass es gerade beim Kraulen am angenehmsten ist, wenn man einfach geradeaus schwimmen kann, da man nicht automatisch nach vorne schauen kann, sondern den Kopf nach oben streckend etwas unnatürlich verrenken muss, um einen Blick zu erhaschen. Nicht dass es unmöglich wäre oder extrem schwierig, es ist einfach auf Dauer belastend und ständig nach vorne schauen geht eh nur effektiv beim Brustschwimmen. Jedenfalls schwamm ich gerade an besagtem mittelaten Herrn vorbei, als der rüber zog auf „meine“ Bahn, mich dabei wohl übersehen hatte und mir brustschwimmenderweise vermutlich unabsichtlich mit der Hand ins Gesicht schlug. Das Wasser dämpfte den Schlag und es war nicht weiter schlimm, also schwimmte ich weiter. Als ich am Bahnende ankam und mich rumdrehte, sah ich noch, dass Herr Brustschwimmer mir meine Bahn streitig machen wollte – was ich doof fand. In der Hoffnung, dass er das nur noch nicht richtig bemerkt habe, schwamm ich weiter auf der Bahn. Im letzten Moment – man sieht beim Kraulen ohne besagte Kopfanstrengung geschätzte vier Meter weit nach vorne – wich ich ihm aus, er berührte mich mehrmals, was ich merkwürdig fand, aber da ich schwimmen wollte, schwamm ich weiter. Und da ich geradeaus schwimmen wollte, suchte ich mir ne andere Bahn in der Mitte. Nach weiteren 100 Metern am vorderen Beckenrand angekommen, maulte mich eine erboste Stimme an, kurz bevor ich wieder abtauchen wollte. Ich stoppte, schließlich hatte ich Wörter wie „Nötigung“, „Straßenverkehr“ und „Bademeister“ vernommen sowie einen Blick, der das Ganze auf mich bezog. Als der Brustschwimmer sich meiner Aufmerksamkeit gewiss war, fing er an, das noch mal in anderer Reihenfolge zu wiederholen, jetzt noch etwas mehr in Rage. Er habe mich vorhin mehrmals angesprochen (er meinte wohl die High-Noon-Situation auf der Außenbahn, wo ich ständig Wasser um meine Ohren hatte) und fände mein Verhalten eine Unmöglichkeit und wenn das noch mal vorkäme, werde er den Bademeister „einschalten“. Ich glaub, ich war auch sauer, aber mehr so aus emotionaler Reaktion, hab glaube aber nichts Schlimmes gesagt. Er wiederholte seinen Standpunkt und als mir das Ganze zu redundant wurde, sagte ich, dass ich einfach nur schwimmen möchte, er den Bademeister ruhig holen solle und ich mich jetzt verabschieden würde. Das war mir echt zu blöd, also schwomm ich weiter meine Bahnen, jetzt in der Mitte, direkt neben dem Brustschwimmer; die Außenbahn war übrigens von da an einsam mit sich selbst beschäftigt. Wegen der widrigen Störmungsverhältnisse hätte ich den Brustschwimmer übrigens später beinahe tatsächlich touchiert, aber irgendwie passierte nichts weiter. Unter Dusche dann trafen wir uns wieder und er wirkte in Angesicht meines wenig gestählten Körpers etwas irritiert, schließlich hatte er einen durchtrainierten und daher arroganten Schwimmer erwartet, vermute ich. Auf dem Parkplatz stiegen wir was zeitgleich in unsere nebeneinander geparkten Autos und ich dachte nur, dass ich nicht hinter ihm fahren wollte. Also beeilte ich mich und rammte dabei fast ein anderes Auto…

Schon krass, was bei so ein bisschen Schwimmen passieren kann. Ich glaube, dass der Herr Brustschwimmer schon morgens beim Aufstehen gedacht hat, er wolle heute ins Schwimmbad, um ein bisschen Krawall zu suchen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass er alle Zeichen als gegen ihn gerichtet deutete und mir nicht nur die erste Bahn sondern kurz drauf auch die mittlere Bahn streitig machen wollte. Dabei hat er einfach nicht verstanden, dass Rückenschwimmer nie, Kraulschwimmer selten und nur Brustschwimmer kontinuierlich beim Schwimmen nach vorne schauen. Das hat wenig mit Arroganz und viel mit der Sportart zu tun…

PS: Was für eine romantische Vorstellung, der Bademeister sei der letzte Hüter von Recht und Gerechtigkeit im Becken der Anarchie. Bringt dem Beruf grad noch ein bisschen mehr Glanz entgegen.

Wenn mehr Möglichkeiten weniger Freiheit bedeuten

Mit den modernen Kommunikationsmöglichkeiten steigen die Freiräume des Einzelnen. … – Weit gefehlt: Neulich berichtete ein Ausbilder im Studienseminar, dass es noch vor rund zehn Jahren üblich gewesen sei, die schriftliche Unterrichtsvorbereitung in ausgedruckter Form morgens vor der Unterrichtsstunde vom Referendar in die Hand gedrückt zu bekommen. Heute ist es üblich, dass wir LiV (=Lehrkfräfte im Vorbereitungsdienst) am Vortag abends den Entwurf dem Ausbilder zumailen, in der Regel bis 18h. Wenn ich das Lernverhalten meiner Schüler und auch mein eigenes beobachte, schließe ich daraus, dass es früher viele Referendare gab, die eine durchgemachte Nacht hinter sich hatten, um morgens den Entwurf frisch ausgedruckt mit in die Schule bringen zu können. Das ist im heutigen Ausbildungssystem nicht mehr möglich. Ausnahmsweise hat das mal nichts mit der Reform des Systems, sprich: der Modularisierung zu tun, sonder mit der „Reform“ der Kommunikationsmöglichkeiten.

Das ist ausnahmsweise mal kein Gejammer, ich will weniger wertend diesen oder jenen Zustand bevorzugt darstellen. Es ist aber bemerkenswert, dass auf nahezu selbstverständliche Weise durch den Zuwachs an Möglichkeiten die Selbstbestimmtheit verloren geht.

Gestern erzählte mir ein Freund eine amüsante Geschichte: Ein Jugendlicher sei auf ihn zu gekommen und sagte, er brauche Hilfe beim Schreiben seines Praktikumsberichts. Das heiße, formuliert sei er schon, er müsse aber noch ins „Internet geschrieben“  werden. … – Als er das erzählte, dachte ich zu aller erst, dessen Schule habe ein Online-System entwickelt, um Praktikumsberichte „praktischerweise“ einfacher darzustellen. Dann dachte ich, dass man das bestimmt nutzen könne, um im Stil von Blogeinträgen die Schüler in Zukunft zu Tagesberichten zu veranlassen. Ich dachte an die Praktikumsberichte, die ich bislang geschrieben hatte und vor allem, wie ich diese geschrieben hatte, und bekam eine leichte Dystopie-Blässe  im Gesicht. Besagter Freund spannte mich glücklicherweise nicht länger auf die Folter und offenbarte mir, dass für den Jugendlichen die Begriffe „Computer“ und „Internet“ dasselbe bedeutet hätten und er einfach den Bericht digitalisieren wollte. … Da bin ich noch mal mit dem Schrecken davongekommen.

Aber wer weiß, toll wärs schon, wenn man als Lehrer mal sehen könnte, zu welcher Uhrzeit die Schüler ihre Hausaufgaben machen. „Aufsatz veröffentlicht von Artur am 10.01.2017 um 07:22 Uhr in der Kategorie ‚Erörterungen‘ “ Mann, das wäre ein Machtzuwachs. – Solange die Schüler nicht mitbekommen, wann ich meinen Unterricht vorbereite…

PS: Wer hier was Philosophischeres erwartet hat, muss zwischen den Zeilen lesen. Mein Verständnis von „Freiheit“ hat übrigens wenig mit „Freiräumen“ zu tun…

Hiobs Frage

Massoud hatte mich vorgewarnt, daß Tante Lobats ganzer Körper vom Ausschlag wund sei und offenbar schrecklich jucke; ständig müsse sie massiert werden, eingeölt oder einfach nur gekratzt. Obwohl sie ihr Morphium gaben, wimmerte sie den ganzen Tag kläglich vor sich hin, wenn sie nicht aufschrie, daß es noch den Nachbarn ins Mark gehen mußte, oder vor Schmerz gleich in Ohnmacht fiel. Man liest das in Romanen, daß Menschen auf einen Schlag um ein halbes Menschenleben altern können. Hier war das so: Ein Jahr zuvor hatte mich eine zwar schmerzgeplagte, aber fröhliche Frau von siebzig, fünfundsiebzig Jahren verabschiedet, nun war ich zurückgekehrt zu einem hautbespannten Skelett, bei dem sich das Alter schon nicht mehr schätzen ließ. Bewegen konnte sie nur noch die Hände, sprechen nichts außer der unverständlichen Reihung von Silben. Die Haare, die sie, seit ich denken kann, immer zusammengesteckt und bei Besuch unter einem Kopftuch versteckt hatte, breiteten sich schneeweiß in alle Richtungen aus, zogen sich wirr übers ganze Kissen und bis zur Brust herab. So sehr war sie abgemagert, daß sich in ihrem einst kugelrunden Gesicht alle Wölbungen und Einkerbungen des Schädels abzeichneten. Um so größer waren die Augen, die mich aus tiefen Höhlen anstarrten, als ich das Zimmer betrat.

Mein Gebein hanget an mir an Haut und Fleisch, und ich kann meine Zähne mit der Haut nicht bedecken. Erbarmet euch mein, ihr meine Freunde! denn die Hand Gottes hat mich getroffen (Hiob 19, 20-21)

Ich werde ihren Blick nie vergessen: Er war mehr als nur leidend, er war zornig und zugleich von tiefer kindlicher Furcht, in angestrengter Nachdenklichkeit, ratlos, hilflos und zugleich beschämt. Ja, es war ihr peinlich, nicht nur in einen solchen Zustand gebracht worden zu sein, sondern dabei auch noch von allen gesehen zu werden, dazu all diese Umstände, Mühen und Kosten, die sie verursachte. Sie war bei klarem Bewußtsein, das hatte mir Massoud vorher schon gesagt, damit ich nicht erschrecke, aber ich hätte es auch sofort an ihrem Blick bemerkt.

Die Tränen in den Augen mußte ich nicht verbergen, da sie ohnehin wußte, was vor sich ging. Auch sie weinte. Sie nahm präzise wahr, was mit ihr geschau, was sie durchlitt und daß wir ihr zusahen; sie reflektierte es, darauf deutete die Konzentration in ihrem Blick hin, aber ihr waren die Möglichkeiten genommen, darauf zu reagieren, es wenigstens zu kommentieren. Das machte sie wütend, das spürte ich genau. Sie wollte das nicht hinnehmen, alles andere, aber das nicht. Deshalb unternahm sie immer neue Anläufe zu sprechen, ohne daß es ihr gelang, die Zunge zu den Sätzen zu bewegen, die sie auf den Lippen hatte. Sie stammelte etwas, blickte in unsere fragenden Gesichter, stellte fest, daß sie sich wieder nicht hatte verständlich machen können, und zuckte mit dem Kinn nach oben, um den Kopf im gleichen Augenblick verbittert von uns abzuwenden. Für mich war dies schwerer zu ertragen als die Schmerzensschreie: dieser nach oben zuckende und dann wegdrehende Kopf, das Wegwerfen, das sich darin andeutete, oder besser gesagt, der Versuch, es wegzuwerfen, das elende Leben, das den Aufwand nicht lohnt. Aber es ging nicht, nicht einmal das ging, denn es blieb an ihr haften, das Leben, sie konnte es einfach nicht abschütteln. „Gewöhnlich sagt man einem Menschen, dessen Zustand aussichtslos ist: ‚Gib es auf, leg dich hin und stirb!‘ “ heißt es in einer Erzählung Sadeq Hedayats. „Aber was geschieht, wenn der Tod dich nicht haben will, wenn er dir den Rücken zukehrt, wenn er einfach nicht zu dir kommt, nicht zu dir kommen will?“ Sie mußte weiter vor uns ausharren.

Und dennoch, so unangenehm ihr, der Glaubensstarken und immer Geduldigen, es war, vor uns so erbärmlich vorgeführt zu werden – noch schlimmer war für sie, wenn wir sie verließen, und sei es nur, daß einer aufs Klo mußte, denn sie vermochte nicht zu beurteilen, ob man auch wiederkommen würde. Sie verstand offenbar nur Bruchstücke dessen, was wir ihr zubrüllten, und dann war es auch so, daß sie uns oft nicht zu glauben schien, daß sie dachte, Badri oder Moussad würden sie nur schonen, wenn sie sagten, ihre Enkelin, ihr Bruder, ihr Neffe kämen gleich zurück. Wenn sie merkte, daß wir aus dem Zimmer gehen wollten, bettelte sie panisch wie ein kleines Kind, das nicht allein zu Hause bleiben will, da sie jedesmal dachte, wir würden nun nach Deutschland zurückkehren und sie würde uns nie mehr sehen. Wenn es einen Menschen gab, den Glaube und seelische Verfassung stark genug gemacht hatten, Schmerzen und Unheil zu erdulden, war sie es, aber das hier, das ging schlicht über ihre Kräfte hinaus, sogar über ihre Kräfte. Damit hatte sie nicht rechnen können, daß es so schlimm werden könnte, das hatte ihr niemand gesagt. Es stand in keinem Buch, nicht einmal im Buch Gottes, in dem sie täglich gelesen hatte. Es zog sich noch beinah ein Jahr hin, juckend, schmerzend, von Eiter überzogen: ein Martyrium. „Siehe da, er sei in deiner Hand“, sprach der Herr zu Satan (Hiob 2,6), der daraufhin Hiob mit bösartigen Geschwüren von der Fußsohle bis zum Scheitel schlug: „Mein Fleisch ist um und um wurmig und kotig; meine Haut ist verschrumpft und zunichte geworden.“ (7,5)

Gewiß ist Hiob keine Person aus unserem täglichen Leben. Dennoch muß man nicht in die Geschichte oder ferne, krisengeschüttelte oder von Katastrophen heimgesuchte Länder gehen, um ihn zu finden. Ein Besuch im Spital genügt. Man braucht nicht einmal zu den Schmerzpatienten gehen. Die Scham kann den Menschen ähnlich zersetzen, das sagen einem alle Pfleger. Dort habe ich ihn getroffen, nur noch 46 Kilo schwer, der auf dem Stuhltopf saß und eine hellbraune Flüssigkeit schiß. Bett und Kleider waren verschmiert. Der Pfleger stülpte sich Handschuhe über und wusch Po und Geschlecht des Wimmernden behutsam mit einem Schwamm. Bestürzter hätte mich Hiob nicht ansehen können. Viel schlimmer als die Schmerzen war für meinen Großvater, daß er am Ende die Herrschaft über seine Blase verloren hatte. Man macht sich hier keinen Begriff davon, was es in Iran vor zwei, drei Jahrzehnten noch bedeutete, Oberhaupt der Familie zu sein, welche Würde es zugleich voraussetzte und mit sich brachte. Und da sah ich Dreizehnjähriger nun, wie sich Großvater vor allen Leuten in die Hose machte, und ich war dabei, als meine Tante Jaleh ihm die Unterhose wechselte. Dabei hatte er für sich von Gott nur zwei Dinge erbeten, wie mein Bruder ein paarmal mitgehört hatte: vor seinen Kindern zu sterben, was ihm nicht vergönnt war, da sein jüngster Sohn übernächtigt gegen einen Baum fuhr, und zu sterben, bevor er auf die Hilfe anderer angewiesen war. Nun hatte Gott ihm, dem Stolzen, die Hilflosigkeit ausbuchstabiert wie ein pedantischer, unnachgiebiger Lehrer. Auch Tante Lobat quälte die Scham über die eigene Schwäche, das sah ich genau. Nicht einmal Hiob, der nackt auf der Asche sitzt und sich mit einer Glasscherbe kratzt, der einst vor allen gerühmte Hiob hält es aus, daß Gott ihn zum Spott für die Leute ausgestellt hat: „Mein Odem ist zuwider meinem Weibe, und ich bin ein Ekel den Kindern meines Leibes. Auch die jungen Kinder geben nichts auf mich; wenn ich ihnen widerstehe, so geben sie mir böse Worte. Alle meine Getreuen haben einen Greuel an mir.“ (19, 17-19)

Hiob konnte wenigstens noch klagen; meiner Tante war selbst dies verwehrt, sooft sie immer wieder neu versuchte, wenigsten einen einzigen Satz zu artikulieren. „O hätte ich einen, der mich anhört!“ (31, 35) Alle in meiner Familie, auch die Alten, waren sich einig, daß ihr das grauenvollste Sterben zuteil geworden war, an dem je einer von uns teilgenommen, von dem je einer gehört hatte – ausgerechnet ihr, der Gottesfürchtigsten unter uns, der Gerechtesten. Das genau ist die Erfahrung Hiobs, nicht nur das Leiden, auf welches das Christentum mit dem Kreuz eine entschiedene Antwort gibt, sondern dessen Ungerechtigkeit, das gottgewollte Unrecht, auf das auch das Kreuz nicht antwortet. Niemand hat es weniger verdient als er: „Denn es ist seinesgleichen nicht im Lande, schlecht und recht, gottesfürchtig und meidet das Böse“, spricht Gott, bevor Er Hiob dem Satan überläßt (1,8). Gerade weil Hiob gerecht ist, muß er leiden. Und wie Hiob zu Gott sagt, „Laß mich wissen, warum du mit mir haderst“ (10,2), so schien im bohrenden Blick meiner Tante die Frage zu liegen, warum Gott sie dem Bösen preisgegeben hatte – warum ausgerechnet sie? „Ist denn auf meiner Zunge Unrecht, oder sollte mein Gaumen Böses nicht merken?“ (6,30) In allen anderen Situationen hätte das eine selbstsüchtige Frage sein können. Hier war es die Frage nach dem Sinn, die Kernfrage Hiobs: Wie sind das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt in Einklang zu bringen mit dem Bild, das uns von Gott gelehrt wurde?

Aus: “Der Schrecken Gottes” von Navid Kermani

Koffein, Selbstbefriedigung und Instrumental-Musik

Neulich ging ich mit einem Freund in der Uni-Mensa essen. Auf dem Rückweg zur UB stach uns eines der „Jesus lebt!“-Plakate ins Auge, die doch recht vehement die ein oder andere Feierlichkeit überklebten. Neugierig schaute ich mir ein Plakat etwas genauer an – die Schrift war stellenweise sehr klein und ich musste echt nah ran gehen. Im Wesentlichen stand dort etwas wie „Jesus kam in eine verdorbene Welt, verdorbene Menschen kommen nicht in den Himmel.“ Als Beispiele für die Verdarbtheit der Welt waren nun einige Begriffe brainstormartig aufgelistet, u.a. „Schwulitäten„, „Kneipe“ und „Koffein“ stand dort. Jetzt ist ja Enthaltsamkeit spätestens seit der Straight-Edge-Bewegung, die im Punk irgendwie ihre Wurzeln hatte, nichts Uncooles mehr. Allerdings dürften einige Hardcore-Fans doch so ihre Probleme damit haben, was ich noch zum Vorschein brachte, als ich den auffällig auf dem Plakat aufgeklebten Begriff „Selbstbefriedigung“ abpiddelte: Im Original stand dort „Instrumental-Musik“. Da war wohl jemand lernfähig. Dumm nur, wenn man einen großen Druckauftrag von Plakaten bestellt und hinterher feststellt, dass sich Sünde ändert. Vielleicht hat der Plakaturheber auch nur irgendwann doch mal in der Bibel gelesen und stieß auf die Geschichte der Eroberung Jerichos (Josua 6) auch mithilfe von Instrumenten. Oder er las von David, der harfespielend König Saul zu beruhigen wusste (1. Samuel 16). Vielleicht war er auch einfach nur mal in einer Kirche, um der Orgelmusik zu lauschen. Jedenfalls stelle ich mir jetzt eine Redaktionssitzung vor: „Scheiße, wir brauchen eine neue Sünde!“ … „Selbstbefriedigung!“ – „Na klar, warum sind wir da nicht eher drauf gekommen?!“. – Ok, Entschuldigung für das Niveau. Aber ich finde, der Begriff beschreibt tatsächlich den Antrieb des Urhebers der Plakate.

Der Freund, mit dem ich zuvor essen war, meinte auf jeden Fall, dass solche Plakate die ganze Sache kaputt machen würden. Ich glaube, dass an diesem Gedanken zwar was dran ist. Allerdings denke ich auch, dass sich jemand mit ernsthaften Beweggründen nicht von solchen Plakaten davon abbringen lassen wird, nach Gott zu suchen.

Nachtrag:
Auf der Seite http://www.bekehrdich.de findet man das Plakat.

PS: Grad ist mir das Tollste an der Seite aufgefallen: Irgendwo unten steht „Ende meiner Homepage„. Mit einem Satz mal eben so alle Festen von Hypertext ins Wanken gebracht, find ich toll.

Was von Darwin übrig blieb

Ich schaute gerade eine Wiederholung der Sendung Wissenschaftsforum auf Phönix mit dem Titel „Was von Darwin übrigblieb… – Die Evolution und ihre Folgen„. Ein Gedanke zu Beginn vom Darwinliebhaber gefiel mir, der darauf verwies, dass zwar Konkurrenz ein treibendes Prinzip der Evoulution nach Darwin sei, dazu aber Vielfalt eine unbedingte Notwendigkeit sei. Also letztlich das stärkste Argument gegen einen Sozialdarwinismus von Darwin selbst. Ansonsten war ich doch eher auf der Seite des Theologen, nicht nur, weil er schön zugespitzt formuliert hat. (Kostprobe von anderer Stelle: „Experimente der Hirnforschung auf der Suche nach Gott sind ungefähr so sinnvoll wie das Zerlegen eines Fernsehgerätes auf der Suche nach Ulrich Wickert.“)  Er hat auch deutlich gemacht, dass das Interessante an Evolution die Prozesshaftigkeit ist, dass man aber all zu schnell ihre Gesetzmäßigkeiten auf jeden Prozess zu übertragen versuche. Zumindest hab ich mir das so rausgezogen. Jedenfalls vergisst man meiner Ansicht nach zu schnell, dass die Naturwissenschaften beschreibende Wissenschaften sind und darin auch ihre Stärke liegt. Schwach wirds aber dann, wenn man das vergisst. Oder anders gesagt: Wer nur genug beschreibt, erklärt noch lange nichts.

Atheisten sind aber gläubig

Ich bin vor kurzem, nachdem ich diesen tp-Artikel samt Kommentaren geleesen habe, hier über diesen Gedanken gestolpert:

Der gern geäußerte Vorwurf , beim Atheismus handle es sich auch nur um eine weitere Religion, entspringt der Vorstellung, auch derjenige sei abergläubisch, der keine Angst vor schwarzen Katzen hat.

Nach ein wenig Grübeln hab ich bemerkt, dass der Gedanke nicht funktioniert. Schließlich steht die Existenz der schwarzen Katze nicht infrage. Auch hab ich nach Leesen dieses Eintrags den Eindruck, dass der Autor der Seite sich in den Kategorien verstrickt, gegen die er kämpft.

Jetzt gehts mir nicht um die Ehrenrettung eines dialektischen Gedankens. Viel spannender bei dem Ganzen finde ich die Frage nach der Bedeutung des Begriffs ‚Glauben‘, was ja letztendlich in all dem steckt. Ich stell mir jetzt mal vor, ich sei jemand, der, hoch reflektiert, dabei nicht unnötig affektiert sondern eher ehrlich und bescheiden, sich selbst als Atheist bezeichnen würde. Ich würde vermutlich auf Kirche, Religion, die Welt verweisen, die Klugheit der Antike, die wenige im europäischen Mittelalter betonen und so versuchen aufzuzeigen, dass es eine schlechte, von Menschen gemachte Welt sei, die aber, weil sie von Menschen gemacht sei, besser werden könne, eben genau dann, wenn die Menschen erkennten, wessen Geistes Kind sie wären und sich von den Verblendenden Reden derer befreiten, die da an eine moralische Vormacht außerhalb dieser Welt glauben. Ich würde also versuchen, die Menschen von ihrem schlechten Glauben zu befreien, einer Unvernunft, die nicht auf Erkenntnissen, auf Fakten, Logik, auf Beweisbarem sondern auf blinden Vorstellungen beruht. Ich wäre der Ansicht, dass die Kategorie ‚Wissen‘ über der des ‚Glauben‘ steht, da ja schließlich etwas zu wissen valider sei, als etwas zu glauben. In all dem würde ich nicht loskommen können von den Ansichten derer, die da glauben, würde sie insgeheim lächerlich finden, ihnen das aber nicht so deutlich offenbaren wollen, würde mich damit beschäftigen wollen, was jemanden dazu treibt, zu glauben, obwohl er wissen kann. Mit der Dauer der Auseinandersetzung mit Religionen und Kirchen würde ich vermutlich verbitterter, weil ich sehen würde, wie sich die Naivität überall wiederholt und ihre Kreise zieht. Irgendwann vor meinem Tod würde ich den Kopf schütteln und denken: „Ich habe es richtig gemacht – mit allen Fehlern, die dazugehören, aber im Grundsatz richtig.“ Ich weiß nicht, ob ich jemals erkannt hätte, dass ich andere letztlich nur von meinen Ansichten hätte überzeugen wollen. Ich hätte wohl nicht beachtet, dass man fremde Erkenntnisse nur glauben kann.

Naja, zum Glück lebe ich ja nicht hoch reflektiert… Glaub ich.

Afghalingrad

Schaue grade die Wiederholung der Diskussionsrunde Maybritt Illner vom Donnerstag. Bitter finde ich ein Statement eines Soldaten, der als Außenstehender der Runde zwischenzeitig kurz und knackig befragt wurde. Auf die Frage, ob er Oberst Klein und den Luftangriff auf die Tanklaster unterstütze, antwortete er, dass die Soldaten vor Ort der Ansicht seien, dass es gut sei, dass endlich jemand mal etwas getan habe. Die Opferzahlen der Zivilisten seien zwar bedauerlich, aber in Anbetracht der Tatsache, dass dabei auch viele hochrangige Taliban getötet worden seien, gehe der Angriff in Ordnung. Schließlich befände man sich im Krieg und im Krieg gebe es weltweit gesehen viele unschuldige Opfer.

Ich finde die Substanz dieser Aussage, die sicherlich nicht einsam in der deutschen Öffentlichkeit zu finden wäre, wenngleich ich diese Meinung nicht allen Soldaten damit unterstelle, sehr bedenklich. Daraus folgen nämlich mehrere Punkte:
1. Deutschland befindet sich im Rahmen der NATO in Afghanistan im Krieg gegen das ehemalige Regime Afghanistans (Taliban). (Auch wenn man nicht wirklich von Regime reden kann, weil die Macht wohl nicht wirklich zentral exisiterte. Vielleicht wäre treffender an eine die Bevölkerung unterdrückende Bewegung zu denken.)
2. Das Ziel dieses Krieges ist die Vernichtung der Anhänger dieses ehemaligen Regimes – auch unter der Inkaufnahme unschuldiger Opfer.
3. Das Ziel dieses Krieges ist nicht die Stärkung des zivilen Aufbaus eines entwicklungsbedürftigen Landes.

Daraus folgt entweder, dass der deutsche Souverän einen falschen Auftrag an die Bundeswehr gegeben hat, oder, dass die Bundeswehr ihr eigentliches Mandat nicht erfüllt, nicht erfüllen kann. Selbst wenn auch noch Guttenberg zurücktreten würde, wäre damit immer noch nicht geklärt, mit welchen Zielen sich Deutschland in Afghanistan am Kriegseinsatz beteiligt. Ich denke, das ist der Kern der ganzen Diskussion.

Persönlich weiß ich nicht, wie ich dazu stehe. Schließlich kann man es sich so oder so zu einfach machen. So übrigens auch:

Lieber Herr Möller, kamen Sie sich ale „Gladiator“ nicht manchmal komisch vor in Kabul. Ein Filmheld unter lauter echten Helden?

ich war froh mal unter echten helden zu sein, denn was die soldaten dort unten leisten und unter welchem einsatz , nähmlich unter dem einsatz ihres lebens kann man nur würdigen. was ich den soladten mitgeteilt habe, und was ich ihnen gegeben habe, waren fitnessgeräte

Dann lieber ehrlich.

PS: Meine Hauptschüler sagen immer: „Wer ’nämlich‘ mit ‚h‘ schreibt, ist dämlich.“

Mehr Bildung!

Wie hier zu lesen ist, war die Vollversammlung der Studierenden der Uni Gießen diese Woche noch besser besucht als letzte Woche. Ich bin ja ein bisschen von den Protesten beeindruckt, im Wesentlichen aus zwei Gründen:

Zu AStA-Zeiten haben wir immer über die „Mobilisierung“ von Studierenden nachgedacht – und waren immer mal wieder ein wenig enttäuscht, weil sich so Wenige für die Hochschulpolitik zu interessieren schienen. Mit diesen Protesten hat der AStA meines Wissens nichts zu tun, die Vollversammlungen wurden jedenfalls nicht von ihm ausgerufen. Das bedeutet, dass die Studierenden die Dinge jetzt sehr viel ernster zu nehmen scheinen und Politik selbst machen wollen.

Außerdem könnte man meinen, dass das Thema Studiengebühren viel mehr Studierende bewegen könnte als so etwas Abstraktes wie „Freie Bildung„. Trotzdem wird aus der „Gießener Erklärung“ gerade deutlich, dass die Ziele sehr inhaltlich und sehr konkret in genau diese Richtung zu gehen scheinen – und das, obwohl Studiengebühren in Hessen abgeschafft und nicht wieder eingeführt wurden.

Ich denke, wenn die Verschulung der Universität so viel Protest hervorrufen kann, (was ich noch vor einem Jahr nie geglaubt hätte,) dann kann es die Verschulung der Schule doch eigentlich auch! Ich will damit sagen, dass der Bildungsprotest, der jetzt stattfindet, die Chance nutzen muss und weiter zu denken hat, als nur bis zur Hochschule. Dazu ist meines Erachtens der entscheidende Punkt, den Bildungsbegriff in jeder Debatte klar zu definieren – und sich eben nicht mit der Bedeutung in der öffentlichen politischen Debatte zufrieden geben, in der oft nur sehr platt mehr Geld für Bildung gefordert wird. Hier wird Bildung zu sehr als „Wissensaneignung“ definiert, wie sich aber Bildung von Wissen abgrenzt, ist im AKBp-Flyer schon 2003 recht gut zusammengefasst. Wer also mehr Geld für Bildung fordert, sollte unbedingt klarmachen, was er unter Bildung versteht. Erst aus diesem Begriff kann dann das entsprechende Menschenbild deutlich werden, das ja Grundlage und Maßstab einer Debatte um Bildungsfinanzierung sein muss.

Ein Nachgedanke:
Im Wort „Bildung“ steckt der Prozess als Ergebnis.

Krasser Führungsstil

Die FR macht dieser Tage anhand mehrer Artikel deutlich, welch krasses Demokratieverständnis so manche Hessische Behörde hat (zum Begriff ‚Behörde‘: siehe Lexikoneintrag). Aufgeregt habe ich mich, als ich heute diesen Artikel gelesen habe, der beschreibt, wie Marco Kraus Opfer von Verwaltungsmobbing wurde. Ich hab mir diesen Artikel übrigens sofort auf der eigenen Platte gespeichert, vielleicht kann man das mal im Unterricht einsetzen, wenn es ums Thema Mobbing geht, man aber nicht sofort einen direkten Bezug zum Schulalltag herstellen will.

Vom anderen Fall war ich dann irgendwie etwas persönlicher betroffen, ohne dass ich mich so sehr emotional drüber aufregen würde: Nach Schwarzgeldern, schwarzen Konten jetzt eine Schwarze Liste – diesmal betriffts die Lehrer. In der Jungen Welt erfahren wir auch das entscheidende Problem von der GEW: „Es ist völlig unklar, wer mit welcher Begründung welche Personen auf diese Liste setzt.“
Ich war ja Freitag auf dem 2. Hessischen Demokratietag, dort war ich in einem Workshop, in dem es um einen offenen Austausch über Qualität an Schulen ging. Ich hab dann irgendwann gegen Ende mal was gesagt, nämlich dass ich es bemerkenswert fände, dass wir in der ganzen Diskussion um Qualität eigentlich bislang nur darüber geredet hätten, was sich verändern müsse und das sei ja sehr bezeichnend für den Zustand der Schule. Außerdem wies ich darauf hin, dass echte Veränderung in einem Prozess von den Schulen selbst vorgenommen werden müsse, alle von „oben“ vorgegebene und im Ergebnis festgelegte Veränderung sei der Sache nicht dienlich. Im anschließenden Beitrag widersprach mir eine Dame sehr energisch und vertrat in etwa die gegenteilige Position, was mich zunächst ob der Heftigkeit etwas verblüffte. Als ich sie jedoch später in einer Pause, in der wir die Möglichkeit hatten, Infomaterialien verschiedener Organisationen einzusehen, hinter dem Stand des Hessischen Kultusministeriums sah, ergab das Ganze dann einen Sinn. Zu doof nur, dass wir auf der Veranstaltung alle mit Namensschildchen rumliefen…

Nachtrag:
Mir fiel gerade ein, dass ich vielleicht eh schon vorher auf der Liste gestanden haben könnte, weil ich mal zu AStA-Zeiten ne Pressemitteilung namentlich unterstützt hab, die dem damaligen Minister für Wissenschaft und Kunst, Udo Corts, nahegelegt hat, wegen seines wenig ausgeprägten demokratischen Verständnisses zurückzutreten (weiß nicht mehr, was der genaue Anlass war). Jedenfalls finde ich die PM nicht mehr, der AStA der Uni Gießen hat sein Internet-Archiv jetzt dem schicken Corporate Design geopfert…

Entweder–Oder

ENTWEDER
Und was ist das Leben anderes als Wahnsinn, und der Glaube anderes als Torheit, und die Hoffnung anderes als Galgenfrist, und Liebe anderes als Essig in der Wunde … Stehet auf, liebe Mit-Verstorbene! Die Nacht ist vorüber, der Tag beginnt wieder seine unermüdete Tätigkeit, niemals, wie es scheint, überdrüssig, immer und ewig sich selbst zu wiederholen.

ODER
So ist also dies, daß wir gegen Gott immer unrecht haben, ein erbaulicher Gedanke; es ist erbaulich, daß wir unrecht haben, erbaulich, daß wir es immer haben. Er erweist seine erbauende Kraft auf zwiefache Weise, teils dadurch, daß er dem Zweifel einhalt tut und den Kummer des Zweifels besänftigt, teils dadurch, daß er zum Handeln ermutigt.

Søren Kierkegaard

Prokrastination

In letzter Zeit mach ich mir gelegentlich Gedanken zum Thema Prokrastination, um unliebsame Aufgaben nicht sofort erledigen zu müssen. Mir kam dabei der Gedanke, dass diese dunkle Macht, die sich schon in alten Sprichwörtern verbarg, durch die Möglichkeiten durch das Netz im Umgang mit Wissen sich erst so richtig entfalten kann. Wenn ich bspw. sehe, wie viele Schüler sich informieren, sei es, weil es eine Hausaufgabe war oder weil wir über einige Stunden projektartig zu einem Thema arbeiten, dann fällt auf: Viele drucken sich z.B. Wikipedia-Artikel aus, in denen die gewünschten Informationen drin stehen. Das Wissen, die benötigten Informationen sind also schwarz auf weiß vorhanden. Viele verstehen einfach nicht, dass es die wesentliche Aufgabe ist, sich die Informationen selbst anzueignen und sie nicht nur zur Hand zu haben – oder sie verstehen es sehr wohl und das Aufschieben findet statt, weil es vielleicht mit Unannehmlichkeiten verbunden ist, den Text zu lesen und die benötigten Informationen rauszuschreiben. Sprich: Die Faulheit steigt mit den Möglichkeiten.

Jetzt wäre es nicht nur unfair sondern würde auch zu einem falschen Bild führen, wenn ich bei den „faulen Schülern“ stehen bleiben würde: Ich kämpfe ja tagtäglich selbst gegen die verschiedensten Aufschiebestrategien. Unterrichtsvorbereitungen mal eben schnell aus dem Netz gezogen (wobei das auch gar nicht unbedingt schneller geht), anstatt sich selbst Gedanken für die Stunde zu machen, gehört da genauso dazu, wie Blog-Artikel zu schreiben, wenn man eigentlich Wichtigeres zu tun hätte… – Apropos: Ich führe die Gedanken vielleicht an anderer Stelle mal fort…

PS: Wer weiß, wie viele wichtige Gedanken, Ideen und Projekte in Prokrastination geboren sind.

3 Parteien

Heute war ich mit einem Freund in Gießen in der Fußgängerzone, um Kaffee zu trinken. Spontan entschlossen wir, die dort anwesenden Parteistände zu befragen, warum wir deren Partei wählen sollten. Als erstes gingen wir zu den Grünen, denen wir beide zunächst am ehesten zugetan waren. Die Frau, die dort Windmühlen bastelte, enttäuschte uns allerdings, als sie uns sagte, dass sie gegen diese „Atomdings“ seien. Ich fragte dann nach, wie die Grünen sich zum Thema Bildung verhalten würden und als nur ein „Ähmm“ und dergleichen kam und ich meine Frage konkretisierte, ob denn Bildung Länder- oder Budesssache sein solle, fragte die windmühlenbastelnde Frau den langbärtigen Mann, was denn der Tom dazu gesagt habe. Thomas, damit war der Spitzenkandidat der Grünen gemeint. Der fand, das sei Bundessache, meinte der Bärtige, woraufhin die Windmühlenbastelnde meinte, das sei Bundessache. Daraufhin gingen wir etwas resigniert zum Stand der SPD, wo wir einen alten, guten Bekannten aus AStA-Zeiten trafen. Der erzählte uns ziemlich viel Ehrliches über seine Sicht auf die Wahl und die Chancen der Vorhaben der SPD. Das Gespräch war länger und gut. Nach kurzem Zwischenstopp auf dem Gästeklo von Horten stießen wir auf den Stand der Piratenpartei. Dort fragte ich mich durch einige komplexere Themen durch. Als Fazit kam dabei heraus: Der Mann von der Piratenpartei sieht zwar die Gefahr, dass kleinere Verlage unter der „OpenAccess“-Forderung der Piraten leiden würden, aber dieser Umstand mehr oder weniger dem Strukturwandel geschuldet sei, der mit der Entwicklung des Internets einhergehe. Außerdem sei es doch gar nicht so schlimm, ein Interview für die Junge Freiheit zu geben. …

Nach diesem Tag bin ich unentschlossener als zuvor, wen ich wählen soll. FDP und CDU/CSU kommen von vornherein nicht in Frage. (Obwohl ein Repräsentant bei der FDP eher visuell sich als LINKE-Kandiadat präsentierte, sind beide Parteien inhaltlich tabu.) Piraten haben sich durch ihre Aussagelosigkeit zu manchen Bereichen disqualifiziert, bleibt also nur noch die windmühlenbastelnde Grüne oder der ehrliche Sozialdemokrat… Wobei die Sozialdemokratie sich selbst nicht wählen mag.

So schwer ist mir noch keine Wahlentscheidung gefallen.

Ein beunruhigendes Video

Zuerst der Hinweis, später vielleicht mehr.

UPDATE:
Auf Spiegel ist jetzt noch ein Artikel dazu erschienen, in dem auch die verschiedenen Quellen ganz gut aufgelistet sind.

Ich  war ja schon das ein oder andere Mal auf verschiedenen Demonstrationen in Gießen, Mannheim, Frankfurt und einmal auch in Wiesbaden. Dort war damals die Dingfestmachung der Studiengebühren im hessischen Landtag (=3. Lesung), wo ein Freund und ich es tatsächlich geschafft hatten, unter Personenschutz durch die Polizei innerhalb der Bannmeile einen Kaffee bei Starbucks zu trinken – während eine mittelgroße Gruppe von Studierenden um die Bannmeile herum demonstrieren ging. Als der Demo-Zug sich näherte, bekamen es die Polizisten ein bisschen mit der Angst zu tun, die Horde würde zu uns stoßen wollen, sodass wir angehalten wurden, den Kaffee schneller zu trinken…

Naja, noch ne halbe Stunde vorher, als der Demotrupp noch an einem Eingang zur Bannmeile Krawall gespielt hat (sie waren nur laut und haben irgendwelche Sachen gerufen und ein bisschen am Metallzaun gerüttelt), waren hinter der Eisengitter-Absperrung einige Polizisten postiert, sowohl zur Abschreckung aber auch bereit für den Ernstfall, wie auch immer der ausgesehen hätte. Dabei war ein Hund mit seinem Führer, beide gingen hinter der in einer Reihe am Zaun postierten Beamten entlang, als der Hund auf einmal austickte und eine Polizistin ansprang und biss – ich glaube, zum Glück nur in die schwere Uniform, zumindest war es eher Schrecken und weniger Schmerz, der im Gesicht der Frau zu lesen waren. Jedenfalls ist der Hund einfach so ausgetickt, war wohl mit der Lautstärke zu stressig, was ich ja verstehen kann.
Was ich nicht verstehe ist, warum die Polizei Hunde mit auf Demos nimmt, auch wenn es ausgebildete Hunde sind.
Ein weiteres Beispiel war in Gießen, als der Demonstrationszug tendenziös Richtung Autobahn marschierte. Eine Hundertschaft riegelte die entscheidende Kreuzung mittels einer spontanen Beamen-Kette ab. Ein Hundeführer ging mit seinem Hund quer zur Reihe. Er hat den Hund ganz klar zur Abschreckung vor der Absperrung „spazieren geführt“, ein Demonstrationsteilnehmer wäre dabei beinahe gebissen worden, weil der Führer den Hund nur schwer unter Kontrolle halten konnte.
Beide Situationen waren vermeidbar, die letzte unverantwortlich. Gerade in solch hitzigen Momenten wie Massenaufläufen ist es wichtig, die Kontrolle über sein Verhalten zu bewahren.

Der ins Gesicht schlagende Polizist hatte die Kontrolle offenbar nicht. Sein Verhalten hat mich stark an das eines Hundes erinnert, dem der ganze Krach und die vielen Menschen einfach zu viel werden und austickt. Jetzt suggeriert der Spiegel-Artikel, der Demoteilnehmer sei zusammengeschlagen worden, weil sich einzelne Polizisten von einer möglichen Anzeige bedroht gefühlt hätten. Das würde bedeuten, dass die sich den Typen aus Berechnung geschnappt hätten. Ich glaube aber, da ist einfach jemand ausgetickt, weil es ihm zu viel wurde, weil der Typ den Anweisungen nicht genau Folge geleistet hat oder warum auch immer. Zum Glück waren die Demonstranten dort scheinbar nicht gewaltbereit, sonst wäre das womöglich böse ausgegangen.

PS: Ich bin ja mal gespannt, wie viele Leute die Piraten am 27.09. wählen…

Entschlossene Langsamkeit

Hab eben beobachten können, wie eine Schwanenfamilie die Straße überquert (übrigens um zum Schwanenteich zu gelangen). Die Überquerung hat etwa drei Minuten gedauert und die heranrasenden Autofahrer mussten anhalten und warten. Die Schwäne sind so langsam über die Straße gewatschelt, als wollten sie die Autos provozieren.
Ich musste dabei an Die Entdeckung der Langsamkeit denken, in der die Kunstfigur eines John Franklins genau so beschrieben wird, während er über Deck geht. Weil er langsam ist in allem, kriegen die anderen auf dem Schiff eben sehr schnell raus, dass sie ihm ausweichen müssen.
Der wichtige Gedanke dabei ist, dass das Entscheidende nicht die Geschwindigkeit ist, mit der man etwas tut, sondern die Entschlossenheit…

Automat

War gerade noch mal im Freibad schwimmen, um es zum letzten Mal diese Saison im Freien zu genießen. Da ich meine ermäßigte „Karte“ – in Wahrheit handelt es sich um einen RFID-Chip, der in einem 5-Mark-Stück-großen, roten, runden Plastikchip sitzt – beim letzten Mal verbraucht hatte und dieser der Automat automatisch eingezogen hatte, wollte ich mir heute einen neuen ermäßigten Chip kaufen. Übrigens ist es nicht möglich, einzelne Ermäßigungen zu bekommen,  man muss immer mindestens fünf auf einmal bezahlen (=6,40€). Dass das Schwimmbad zwei Tage später zumacht, war mir egal, kann ich ja noch nächste Saison benutzen, dachte ich. Tja, das dachte ich, während ich vor dem unbesetzten Kassenhäuschen stand… – nachdem ich ne Weile dachte, dass auch Kassierer aufs Klo müssen, betätigte ich die Klingel für die Fernsprechanlage und schilderte der fragenden Stimme, das Kassenhäuschen sei nicht besetzt. Die wieß mich dann auf den Bezahlautomaten hin, den ich bis dahin tatsächlich übersehen hatte. Auf meine bedankende Schlussbemerkung, dass ich ja ermäßigten Eintritt bekäme, offenbarte mir der Lautsprecher, dass dies am Automaten nicht möglich sei (was ich insofern verstehe, als dass ich ihm zwar meinen Ausweis vor den Bildschirm halten könnte, ich aber andererseits froh bin, dass noch keine intelligenten Scanner für sowas im Einsatz sind). Ermäßigte Karten könne man nur kaufen, wenn die Kasse besetzt sei. Auf meinen Hinweis, laut Beschilderung sei ich zu einer Uhrzeit an der Kasse, an der sie besetzt sein sollte, wurde ich darauf hingewiesen, dass wegen fünf Badegästen die Kasse nicht besetzt werde. Prinzipiell fand ich das ja verständlich – wenn damit nicht ausgeschlossen worden wäre, dass ich weder ermäßigten Eintritt bekäme, noch den Euro für den Spint mir hätte wechseln können, noch das 20-Cent-Stück, welches für die warmen Duschen benötigt wird… Also fing ich kurz an zu disktuieren, nachdem sich das Gespräch aber – ähnlich wie mit Wachtmeistern – im Kreis drehte, ließ ich dem Lautsprecher gegenüber die Bemerkung fallen, dass Diskutieren offensichtlich nichts bringe, ich das alles dämlich fände und bedankte mich höflich (wohl nur höflich und weniger ehrlich) und steckte die 2,40€ in den Automaten und die durch Wut und Unverständnis aufgeladene Energie in die folgenden 2200m…

Abgesehen davon, dass ich mich in dieser kurzen Erzählung in einer Welt voll Grausamkeit als den Entrechteten schlechthin darstellen möchte, gehts mir um Folgendes: Ich finde es krass, dass sich eine Entwicklung bestätigt, möglichst viel zu automatisieren. Eine Folge, die ich heute selbst gespürt habe, ist, dass eine ehemals selbstverständlich von einem Menschen besetzte Kasse nur noch als kulanter Zusatz-Service zum Automat verstanden wird. Wer dann irgendwelche Bedürfnisse hat, die nicht ins automatisierte Schema passen, hat gelitten, bzw. hat zu leiden. Ähnliches Prinzip befürchtet sich beim mittlerweile automatisierten Rückmeldesystem an der Uni Gießen zu entwickeln, wo man mittlerweile im Idealfall nur noch was mit Scannern und Druckern zu tun hat, um die benötigten Unterlagen zu bekommen.

Den Bogen weiter gespannt sei noch zum Schluss der Hinweis gestattet, dass man nicht automatisch Maschinen benötigt, um Automaten herzustellen. Bestes Beispiel ist die Umsetzung der Modularisierung von Bildung, die zuweilen dazu führt, dass sich eine Logik automatisiert, die nichts mehr mit Realität zu tun hat oder vielmehr: eine Logik, die sich eine eigene Realität schafft. Hab ich heut morgen wieder gedacht, als ich mitbekommen habe, mit welchen Problemen sich einige meiner Hauptschüler rumschlagen (wörtlichst). Das Ausbildungsmodul Erziehen, Beraten, Betreuen kann jedenfalls trotz schicken Titels mir nicht mehr Ratschläge geben, als: Machense doch mal Gruppenarbeiten im Unterricht… (Achtung: Zynische Polemik!) Es tut aber so, als könne man nach dem Besuch erziehen, beraten und betreuen. Probleme, die über den Zuständigkeitsbereich eines Moduls hinausgehen, haben ja rein technisch betrachtet dort jeweils keinen Platz. Zum Glück sitzen aber manchmal Menschen in den Modulen, die nicht nur Routine automatisch abspulen…

Das Internet-Manifest

Endlich mal jemand, der nichts zum Internet-Manifest zu sagen hat… – Naja, fast nichts, zumindest, liegt aber wohl nur an der ‚17‚.

Ich hingegen finde, dass das alles arg schwammig ist und damit keine Forderungen oder wirklich neuen Sichtweisen verbunden sind. Merkwürdig finde ich folgenden Punkt:

Links sind Verbindungen. Wir kennen uns durch Links. Wer sie nicht nutzt, schließt sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus. Das gilt auch für die Online-Auftritte klassischer Medienhäuser.

Mein Problem damit ist, dass da irgendwie drin steckt, dass Öffentlichkeit sich in Zukunft nur noch aufs Netz beschränken wird. Und das will ich nicht.

Zur Afghanistan-Diskussion

Ihr sagt zwar Menschlichkeit, meint aber Macht. Denn ihr greift nicht zufällig da ein, wo’s euch machtpolitisch behagt. In einigen Teilen der Welt sind euch Menschenrechtsverletzungen egal, an wirtschaftlich oder strategisch bedeutsamen Stellen seid ihr auf einmal dabei.

Ich denke, dieser Ausschnitt aus einem Interview mit Christoph Kampmann in der FR ist der entscheidende Punkt für eine Diskussion, ob der Afghanistan-Krieg richtig ist oder notwendig – erst recht nach dem zweifelhaften Bombardement zur Verhinderung eines Anschlags. (Interessanterweise ist hier in manchem journalistischen Beitrag derzeit das Interesse an der unheitlichen Bewertung des Vorgangs innerhalb der NATO größer als an der Frage nach dem richtigen Handeln.) Die weiterführende Frage lautet: Ist die Tatsache, dass an vielen anderen Stellen der Welt weggeschaut wird und in Afghanistan nur zweitrangig humanitäre Beweggründe eine Rolle spielen, ein Argument, Afghanistan sich selbst zu überlassen? (Erst danach sollte man sich übrigens mit der Frage beschäftigen, ob der Krieg überhaupt noch zu gewinnen ist.)

Entschuldigung ohne Reue

Zwei Gedanken zu Rüttgers Aussagen über die faulen Rumänen, die, weil sie zu spät zur Arbeit kämen, schlechtere Handys produzieren würden, und die irgendwie auch doofen Chinesen. Auslöser ist der Ausspruch von Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Armin Laschet auf FR-Online, der Rüttgers wie folgt verteidigt:

„Ich finde die Reaktionen völlig überzogen“, sagte Laschet am Montag im ZDF-„Morgenmagazin“. Rüttgers Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vorzuwerfen, sei „geradezu absurd“. „Deshalb sollte man die Tassen im Schrank lassen“ und Rüttgers‘ Entschuldigung annehmen, forderte Laschet. Im Engagement für den früheren Nokia-Standort Bochum sei ihm „diese Formulierung durchgegangen“.

Zum einen hat Rüttgers sich nicht entschuldigt: „Ich wollte niemanden beleidigen, wenn das doch geschehen ist, tut mir das leid.“ Die Formulierung nimmt sein eigenes Handeln aus der Verantwortung, eine echte Entschuldigung würde sich nämlich z.B. so anhören: „Es tut mir leid, dass ich jemanden beleidigt habe.“ Zu einer Entschuldigung gehört die Einsicht, einen Fehler begangen zu haben, kurz: Reue. Die kann ich aus dem Wortlaut nicht lesen.

Zum anderen bedeutet Laschets Aussage, die Formulierung sei mit Rüttgers durchgegangen, dass Rüttgers inhaltlich recht habe. Die Gedanken, die dahinter stehen und also nach wie vor in Rüttgers Kopf Raum haben, die er nur kurzzeitig formulierungstechnisch nicht im Zaum hatte, sind doch das eigentliche Problem. Das wirklich Bittere an der Sache ist, dass er Ministerpräsident eines ziemlich großen Bundeslandes ist und da finde ich es schon krass, dass so eine Weltanschauung sich in so einer mächtige Position befinden kann…

Jetzt kann man mir natürlich vorhalten, ich sei, weil ich als Deutschlehrer von Formulierungsangelegenheiten sowieso besessen sei, da sehr verbissen an ein paar unbedeutende Wörter und Phrasen rangegangen. Man muss sich dabei allerdings im Klaren sein, dass Rüttgers seine ‚Völkerkunde‘ nicht nur einmal offenbart hat und Politiker seines Schlages vermutlich die Hälfte ihres Lebens in Rhetorik-Seminaren verbracht haben, um eigene Überzeugungen in Formulierungen zu verpacken, die niemand mehr wirklich versteht.

PS: Man muss doch mal die Tassen im Schrank lassen wird wohl zu meinem persönlichen Sprichwort-Favoriten…

Richtlinie und Verantwortung

Je länger ich in der Schule bin, desto stärker festigt sich der Gedanke, dass allzu strikte Regeln und Verhaltensmaßgaben Menschen zur Verantwortungslosigkeit erziehen. Aktueller Auslöser zu diesem Gedanken war die Neuregelung der ‚Verkehrsführung‘ einer Unterführung, die sowohl Fußgänger als auch Radfahrer nutzen. Seit kurzer Zeit ist diese breite Unterführung, die bergab und um die Kurve führt, in einen schmalen Teil für Fußgänger und einen breiteren für Radfahrer mit entsprechenden Symbolen und Linie auf dem Boden markiert. Das mag in dem ein oder anderen Fall auch sinnvoll sein, weil so wahrscheinlicher Zusammenstöße zwischen Kinderwagen und Radfahrern vermieden werden könnten. Allerdings kam mir, als ich eben mit einem Freund dort spazieren ging, der Gedanke, dass die Markierung langfristig den genau gegenteiligen Effekt haben könnte: Statt vorsichtig um die Kurve zu fahren, weil ja auch Fußgänger die Unterführung nutzen könnten, würde sich ein Radfahrer wohl recht schnell auf die markierten Verkehrsregeln verlassen und so die Verantwortung für sein Handeln dieser Wegstruktur übertragen. Ob nun ein oder mehrere Fußgänger sich hinter der Kurve befinden, wird dann irrelevant und führt vielleicht dazu, unvorsichtiger zu fahren…

Nach ähnlichem Prinzip verhält es sich auch mit anderen Richtlinien, die bspw. das Zusammenleben ordnen. Unter dem Diktat der Regel, ohne dass ein Bewusstsein vorhanden wäre, warum diese Sinn macht, gibt man die Verantwortung schnell ab, weil man sich ja so verhält, wie es von einem verlangt wird. Passen Regel und Situation allerdings nicht zusammen, wäre es angebracht, in eigener Verantwortung sinnvoll zu handeln. Und in der Schule erlebe ich es eben oft, dass Lehrer mit Schülern vor allen Dingen formale Kämpfe statt inhaltlichen führen, also aus Prinzip auf dem Einhalten von Regeln beharren. Und das wird eben dann problematisch, wenn es nicht möglich ist, bewusst zu machen, warum diese durchzusetzenden Verhaltensregeln sinnvoll sind. Verantwortungsvoll scheint also erst der zu handeln, der sich inhaltlich begründet sinnvoll über Regeln hinwegsetzt:

[…] es muss Normen geben, die zu einer Abweichung von einem Sollen führen können. (wikipedia)

Dies soll nun nicht zu Anarchie und Abschaffung von Regeln aufrufen. Stattdessen sollte sich folgendes Bewusstsein in den Köpfen festsetzen: Regeln sind dazu da, um zu lernen, wann man sie brechen muss. Anarchie führt zur Beliebigkeit und somit zur Bedeutungslosigkeit des eigenen Handelns. Aber Regeln zu brechen, wenn es inhaltlich begründet ist, stärkt die Erziehung zu verantwortlichem Handeln und Denken. Mit diesem Bewusstsein lässt sich so mancher Situation weniger verbissen entgegentreten…

Demokratie

Während ich gerade Hart aber Fair schaue mit Lafontaine, Gabriel, Künast, Westerwelle und Koch (von links nach rechts), kommt mir so der Gedanke, dass sich in den nächsten, sagen wir zehn Jahren eine Entwicklung auftun könnte, die den bisschen demokratischen Prinzipien in Deutschland schaden könnte: Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland sich in der parlamentarischen Demokratie immer weniger wiederfinden werden. Die einzigen, die derzeit wissen, welche Partei sie wählen werden, sind die auf Seiten des „bürgerlichen Lagers“ (was ein hässlicher Begriff, schließlich kann jeder Bürger wählen und nicht nur diejenigen sind Bürger, die FDP oder CDU/CSU wählen). Wenn sich dieser Koalition in der nächsten Legislatur durchsetzt und ihre Wahlprogramme weitestgehend umsetzen werden, wird sich das, was sich momentan schon an Protestpotenzial in Parteien wie der Linken wiederfindet, noch stärker ausbilden, ohne allerdings von Parteien wirklich eingebunden werden zu können. Sprich: Bei einer schwarz-gelben Koalition wird sich der Protest (=gesellschaftliche Spaltung) radikalisieren. Und was dann bei der nächsten Bundestagswahl bei rauskommt, möchte ich nicht mutmaßen.

PS: Ich bin ja gespannt, wie stark die Piraten-Partei wird, die dort, wo sie inhaltlich wird, interessante Ansätze verfolgt. Vielleicht hat sie gerade wegen ihrer Aussagelosigkeit zu vielen gesellschaftlichen Themen (Wirtschaft, Arbeit, Umwelt…) eine große Chance, die Volkspartei der Zukunft zu werden…

Schwimmen

Ich war eben schwimmen. Ich erinnere mich noch, dass eine Freundin mal gesagt hat, sie könne besonders gut nachdenken beim Schwimmen. Ich habe festgestellt, dass ich während des Sports überhaupt nicht an Dinge denke, die nicht mit Schwimmen zu tun haben. Ich konzentriere mich voll auf das Wassergefühl, die Geräusche von Schwimmbewegung und vom Atmen, darauf, dass ich nicht zu früh Luft hole, wenn ich den Kopf zur Seite aus dem Wasser drehe… manchmal vergesse ich sogar dadurch die Anzahl der geschwommenen Bahnen. Anders gesagt: Schwimmen gehört zu den Zeiten, in denen endlich mal alles, was ich tue, einen in sich geschlossenen Sinn hat, wo ich mein Handeln endlich mal nicht mehr in Frage stellen muss. Warum sollte ich diese kostbaren Momente mit fremden Gedanken stören?