Ein Soziologe aus Offenbach erklärte neulich in einem Vortrag, dass sich weite Teile der Gesellschaft eigentlich im Ziel einig sei, die Erderhitzung zu begrenzen. Uneinigkeit herrsche beim Tempo der Transformation. Das ist als Beschreibung sicher zutreffend, ob es im Umgang hilft, sei dahingestellt.
Ich denke, dass auch das eine Ausrede dafür ist, sich nicht zu verändern. Sieht man auch in anderen Bereichen: Es ist leicht, sich einzureden, dass „linke“ Bewegungen Schuld trügen am Erstarken rechtsextremer Anschaungen. Politisch ist das als ein entscheidendes Motiv von vielen Parteien derzeit genannt, u.a. begründet die CDU ihren ausländerfeindlichen Wahlkampf so. (Leseempfehlung eines Interviews der TAZ mit dem Historiker Jens Bisky: Wie Weimar ist die Gegenwart? Siehe auch: Hu-Hu-Hufeiseneinsatz)
Als weiteres Beispiel sei der Verweis auf die Kaliberexperten genannt. Die Logik, die dahintersteckt: Die Waffenlieferungen an die Ukraine wirkten als eine Art Brandbeschleuniger des Krieges. Das ist gedanklich nicht weit entfernt davon, die Schuld am Kriegsausbruch nicht in den Entscheidungen der russichen Führung zu suchen. (Leseempfehlung des ZEIT-Interviews mit dem Schriftsteller Marko Martin: „Wir dürfen uns in der Nähe der Apokalypse nicht wohlfühlen“)
Mich erinnert vieles derzeit an Kassandras Schicksal, die Figur der griechischen Mythologie. Die erhielt das Geschenk der Weissagung von Apollon. (Weil der sie so schön fand und er damit ihre Zuneigung bekommen wollte.) Apollon verfluchte sie dann aber. (Weil sie ihn zurückwies.) Ihren Weissagungen wurde fortan kein Glaube geschenkt. Nachdem sie mehrere ihrer Weissagungen sich erfüllen sehen muss, wird sie vergewaltigt, entführt und von der Frau des Entführers (oder deren Geliebten) getötet.
Fehlt also nur noch, dass ihr jemand nachträglich die Schuld an den Tragödien gegeben hätte: Wenn Kassandra die Zukunft doch kannte, hätte sie sich eben stärker einsetzen müssen, die Zukunft zu verändern. So rein hobbypsycholgisch würde das z.B. erklären, warum derzeit eigentlich alle was gegen die Grünen haben. Und letztlich sind die Parteien ja nur Projektionsflächen für wahre Konflikte innerhalb der Gesellschaft.
Es gibt ja in der Bibel eine der Kassandra ähnliche Figur: den Propheten Jona. Der bekommt von Gott den Auftrag, zur Stadt Ninive zu reisen. (Das ist wohl als die Hauptstadt einer die Israliten beherrschenden Großmacht zu lesen, z.B. der Assyrer.) Darauf hat Jona aber keine Lust und will stattdessen nach Tarsis. Er heuert auf einem Schiff an, das nach kurzer Fahrt in einen schweren Sturm gerät und Jona ahnt, dass er der Grund für den Sturm ist. Er bittet die Mannschaft, ihn über Bord zu werfen. Das wollen die zuerst nicht, tun es nach vergeblichen Ruderversuchen dann aber doch. Das Unwetter legt sich und die Schiffsbesatzung ist so beeindruckt, dass sie alle zu Gott beten.
Jona wird im Wasser von einem großen Fisch verschluckt. Nach 3 Tagen im Bauch des Fischs wird er schließlich an Land gespuckt und nimmt seinen Auftrag an. Er geht nach Ninive und spricht zu den Bewohnern der Stadt: In 40 Tagen gehe die Stadt unter. Zu seiner Verwunderung tun die Bewohner Buße und gehen in Sack und Asche und fasten, sogar der König. Gott sieht deshalb von der Zerstörung ab.
Daraufhin wird Jona sauer und man erfährt, was der eigentliche Grund seiner ursprünglichen Flucht vor dem Auftrag war: Er ahnte, dass Gott gnädig sein würde. Voller Zorn sucht er sich außerhalb der Stadt einen Platz, um von dort ihr Schicksal zu beobachten. Gott lässt ihm einen Rizinus wachsen, der ihm Schatten spendet, sodass sich Jonas Laune bessert. Bei Anbruch des Morgens schickt Gott jedoch einen Wurm, der den Strauch „sticht“ und er verdorrt. Später schickt Gott einen heißen Wind und die Sonne „sticht“ Jona, so stark, dass dieser lieber tot wäre. Gott fragt Jona, ob er wirklich denkt, zu Recht sauer wegen des Rizinus zu sein. Trotzig antwortet er Gott: „Mit Recht zürne ich bis an den Tod.“ Das Buch Jona endet dann mit der Antwort Gottes, die er als Fragen formuliert: „Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?“
Hier einige Gedanken, die ich in keinen sinnvollen Zusammenhang bekomme:
- Kassandra und Jona sind den Entscheidungen und Handlungen der anderen radikal ausgeliefert.
- Während Kassandra als Figur dazu verflucht ist, passiv zu sein, wehrt sich Jona (vergeblich) gegen sein Schicksal, indem er den Tod sucht, aber nicht findet.
- Lustigerweise sind die Bewohner der Stadt Ninive am Ende auch verflucht: Sie müssen damit leben, nie zu wissen, ob die Stadt wirklich untergangen wäre.
- Veränderung sei Schuld am Verharren ist ein verführerischer Gedanke, weil er ermöglicht, es sich in seinem Nicht-Handeln behaglich einzurichten.
- Sich als Kassandra (oder Jona) zu fühlen ist verführerisch, weil man sich dann nicht mehr als Teil der Gemeinschaft betrachten muss.
- Jona zieht sich zurück ins Private, findet Glück und verliert es alsbald.
- Jona hätte Tool gehört: AEnema.