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Kategorie: BLOGSatz

Despair

Auch wenn mir die Selbstinszenierung von The Mars Volta in jüngster Zeit nicht mehr sehr zusagt, wollte ich doch mal auf eine Seite hinweisen, auf der recht gute Musik zu finden ist: http://rodriguezlopezproductions.com/. Achtung, nicht erschrecken! (iPhone-Benutzer dürften ‚Glück‘ haben. – Wird „iPhone“ am Satzanfang eigentlich groß oder klein geschrieben? – Das ist zum Verzweifeln…) Neben ruhigerer Gesangs- und Gitarrenmusik und rockiger Instrumentalmusik ist dort auch ein etwas verunsicherndes Album anzuhören: Despair. Die Liedtitel sind allesamt Rainer Werner Fassbenders Filmen entliehen, musikalisch kann ich sie aber nicht sinnvoll unterscheiden – ok, ich hab nicht alle durchgehört… Auf jeden Fall krass.

Fast so krass, wie das Storybook zu De-Loused in Comatorium, dem ersten Longplayer von The Mars Volta, das den Selbstmord eines Freundes zu verarbeiten sucht und mit folgenden Sätzen beginnt:

Cerpin taxt stood high above the wobbling miscarriage of oncoming traffic, he was weak in the knees. Blackened out of synch knew his time here would soon end with an internal hemorrhaging made aware by the animonstrosity of his frankenstatue presence. No longer would he carry on his shoulders the weight of passion.

Ich finde ja, dass das eine unnötig aufgeblähte Sprache ist, zumindest klingt meine deutsche (rudimentäre Schulenglisch-, Wörterbuch-) Übersetzung so:

Cerpin taxt stand hoch über der wabernden Fehlgeburt des aufkommenden Verkehrs, schwach in seinen Knien. Ungleich verdunkelt wusste er, dass seine Zeit hier bald mit einem inneren Ausbluten enden würde, dessen er durch die Auswüchse seiner frankensteinernen Präsenz gewahr wurde. Nicht mehr länger würde er die Last seiner Passion auf seinen Schultern tragen.

Ok, mag man anders und besser übersetzen können, aber das allein fiel mir schon sauschwer. Und ich frage mich halt, warum man es den Lesern so schwer machen muss. Da ist die Grenze zwischen Geschichtenerzählung und Selbstdarstellung am Verschwimmen. Wenngleich ich die Musik von The Mars Volta schon seit der ersten LP mochte und ich es beeindruckend finde, wie kunstvoll dieses Konzeptalbum arrangiert wurde: Verzweifelte Geschichten kann man besser erzählen. Aber vielleicht gehört das Leiden einfach zum Verstehen dazu…

PS: Es macht Freude, das hier mit Kopfhörern zu hören: A Manual Dexterity: Soundtrack Volume One.

PPS: Vielleicht interessiert hier auch der Hinweis auf einen Film von Omar Rodriguez Lopez: The Sentimental Engine Slayer. Und in Fanboy-Manier gleich ein weiterer Link mit einem Interview hinterher: Q&A with Omar Rodriguez-Lopez.

Das Netz – ein öffentlicher Ort?

Nachdem sich Facebook mit rund 400 Millionen Nutzern und mehr Seitenaufrufen als Google wohl über lange Zeit ins Gespräch bringen wird (zusammengetragen auf netzsofa.net), hat sich mir die Frage gestellt, wie solche und andere Kommunikationsforen Teil einer neuen Form von Öffentlichkeit sind. Habermas zum Beispiel sieht eine fragmentierte Öffentlichkeit im Netz:

Das Web liefert die Hardware für die Enträumlichung einer verdichteten und beschleunigten Kommunikation, aber von sich aus kann es der zentrifugalen Tendenz nichts entgegensetzen. Vorerst fehlen im virtuellen Raum die funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen, die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren. (nachlesen: Habermas 2.0 – Strukturwandel der Öffentlichkeit reloaded)

Wer ein bisschen Zeit aufbringen will, kann dazu 175 Minuten lang einen Einblick in den Münchner Mediengipfel vom Oktober 2009 nehmen. Dort redet Richard David Precht von Minute 38:41 bis 54:37 in dieselbe Richtung, insbesondere ab 46:40 (krass: individualisiertes Kollektivdasein der vereinzelten Masseneremiten). Eine Gegenposition vertritt Felix Neumann in seinem Blog:

Prechts Politikverständnis ist hoffnungslos veraltet: Für ihn kann strenggenommen nur die Agora in Athen bestehen, denn dort werden wirklich alle Fragen von öffentlichem Belang in einer gemeinsamen Öffentlichkeit diskutiert. Schon vor dem Internet war die Gesellschaft zu groß und zu komplex, als daß man ernsthaft annehmen konnte, daß ein völlig homogener Diskursraum möglich sei. Natürlich ist auch der öffentliche Diskurs arbeitsteilig; zum Glück muß ich nicht am öffentlichen Diskurs über etwa Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (zweifellos ein enorm wichtiges Thema!) teilnehmen. Das »fragmentiert« den Diskurs aber nicht, das segmentiert und ordnet ihn – und nur dank dem Netz kann ich schnell nachlesen, was es damit auf sich hat, und weil das Netz bisher fragmentierte Öffentlichkeiten verbindet, kann ich mich bei Bedarf ungleich tiefgreifender informieren, als das ein Drei-Minuten-Beitrag in der Tagesschau oder ein Zeitungsartikel könnte. (nachlesen: Das Netz integriert Öffentlichkeiten. Gegen Precht)

Tja, da steht man nun und weiß nicht recht weiter. Irgendwie geht es ja bei ‚Öffentlichkeit‘ vor allen Dingen darum, was man annimmt, welche Auffassung andere zu bestimmten Themen haben und welche dieser Meinungen vorherrschend sind und welche Position man selbst zu dieser vorherrschenden Meinung einnimmt. Dass dabei nicht immer die mehrheitlichen Meinungen vorherrschend sein müssen, sondern vielleicht sogar die selbsteingeschätzte Gegenposition mehrheitlich aber nicht vorherrschend ist – dazu braucht man nicht die Weisheit eines Roland Kochs. Nun trägt zu dieser schweigenden Gegenposition vielleicht auch etwas die Anonymität des Lesers bei (dazugehörige These). Für schwerwiegender erachte ich allerdings, dass große Bevölkerungsgruppen einfach nicht teilnehmen am digitalen Austausch. Und wenn man selbst keine Emailadresse hat, womöglich ohne Handy durch die Gegend läuft und nicht über 50 Jahre alt ist, dann ist man absonderlich – so die von mir behauptete öffentlich vorherrschende Meinung. Dass diese Meinung zu kritisieren ist, da werden mir sicherlich die meisten zustimmen… – Wie dem auch sei, was ich eigentlich sagen wollte:

Ob Fora oder Foren: Wo viel Gerede, da ist viel Schweigen.

PS: Das führt weiter weg, ist aber nicht weniger interessant: Ist ein globales demokratisches System möglich?

Wenn mehr Möglichkeiten weniger Freiheit bedeuten

Mit den modernen Kommunikationsmöglichkeiten steigen die Freiräume des Einzelnen. … – Weit gefehlt: Neulich berichtete ein Ausbilder im Studienseminar, dass es noch vor rund zehn Jahren üblich gewesen sei, die schriftliche Unterrichtsvorbereitung in ausgedruckter Form morgens vor der Unterrichtsstunde vom Referendar in die Hand gedrückt zu bekommen. Heute ist es üblich, dass wir LiV (=Lehrkfräfte im Vorbereitungsdienst) am Vortag abends den Entwurf dem Ausbilder zumailen, in der Regel bis 18h. Wenn ich das Lernverhalten meiner Schüler und auch mein eigenes beobachte, schließe ich daraus, dass es früher viele Referendare gab, die eine durchgemachte Nacht hinter sich hatten, um morgens den Entwurf frisch ausgedruckt mit in die Schule bringen zu können. Das ist im heutigen Ausbildungssystem nicht mehr möglich. Ausnahmsweise hat das mal nichts mit der Reform des Systems, sprich: der Modularisierung zu tun, sonder mit der „Reform“ der Kommunikationsmöglichkeiten.

Das ist ausnahmsweise mal kein Gejammer, ich will weniger wertend diesen oder jenen Zustand bevorzugt darstellen. Es ist aber bemerkenswert, dass auf nahezu selbstverständliche Weise durch den Zuwachs an Möglichkeiten die Selbstbestimmtheit verloren geht.

Gestern erzählte mir ein Freund eine amüsante Geschichte: Ein Jugendlicher sei auf ihn zu gekommen und sagte, er brauche Hilfe beim Schreiben seines Praktikumsberichts. Das heiße, formuliert sei er schon, er müsse aber noch ins „Internet geschrieben“  werden. … – Als er das erzählte, dachte ich zu aller erst, dessen Schule habe ein Online-System entwickelt, um Praktikumsberichte „praktischerweise“ einfacher darzustellen. Dann dachte ich, dass man das bestimmt nutzen könne, um im Stil von Blogeinträgen die Schüler in Zukunft zu Tagesberichten zu veranlassen. Ich dachte an die Praktikumsberichte, die ich bislang geschrieben hatte und vor allem, wie ich diese geschrieben hatte, und bekam eine leichte Dystopie-Blässe  im Gesicht. Besagter Freund spannte mich glücklicherweise nicht länger auf die Folter und offenbarte mir, dass für den Jugendlichen die Begriffe „Computer“ und „Internet“ dasselbe bedeutet hätten und er einfach den Bericht digitalisieren wollte. … Da bin ich noch mal mit dem Schrecken davongekommen.

Aber wer weiß, toll wärs schon, wenn man als Lehrer mal sehen könnte, zu welcher Uhrzeit die Schüler ihre Hausaufgaben machen. „Aufsatz veröffentlicht von Artur am 10.01.2017 um 07:22 Uhr in der Kategorie ‚Erörterungen‘ “ Mann, das wäre ein Machtzuwachs. – Solange die Schüler nicht mitbekommen, wann ich meinen Unterricht vorbereite…

PS: Wer hier was Philosophischeres erwartet hat, muss zwischen den Zeilen lesen. Mein Verständnis von „Freiheit“ hat übrigens wenig mit „Freiräumen“ zu tun…

Hiobs Frage

Massoud hatte mich vorgewarnt, daß Tante Lobats ganzer Körper vom Ausschlag wund sei und offenbar schrecklich jucke; ständig müsse sie massiert werden, eingeölt oder einfach nur gekratzt. Obwohl sie ihr Morphium gaben, wimmerte sie den ganzen Tag kläglich vor sich hin, wenn sie nicht aufschrie, daß es noch den Nachbarn ins Mark gehen mußte, oder vor Schmerz gleich in Ohnmacht fiel. Man liest das in Romanen, daß Menschen auf einen Schlag um ein halbes Menschenleben altern können. Hier war das so: Ein Jahr zuvor hatte mich eine zwar schmerzgeplagte, aber fröhliche Frau von siebzig, fünfundsiebzig Jahren verabschiedet, nun war ich zurückgekehrt zu einem hautbespannten Skelett, bei dem sich das Alter schon nicht mehr schätzen ließ. Bewegen konnte sie nur noch die Hände, sprechen nichts außer der unverständlichen Reihung von Silben. Die Haare, die sie, seit ich denken kann, immer zusammengesteckt und bei Besuch unter einem Kopftuch versteckt hatte, breiteten sich schneeweiß in alle Richtungen aus, zogen sich wirr übers ganze Kissen und bis zur Brust herab. So sehr war sie abgemagert, daß sich in ihrem einst kugelrunden Gesicht alle Wölbungen und Einkerbungen des Schädels abzeichneten. Um so größer waren die Augen, die mich aus tiefen Höhlen anstarrten, als ich das Zimmer betrat.

Mein Gebein hanget an mir an Haut und Fleisch, und ich kann meine Zähne mit der Haut nicht bedecken. Erbarmet euch mein, ihr meine Freunde! denn die Hand Gottes hat mich getroffen (Hiob 19, 20-21)

Ich werde ihren Blick nie vergessen: Er war mehr als nur leidend, er war zornig und zugleich von tiefer kindlicher Furcht, in angestrengter Nachdenklichkeit, ratlos, hilflos und zugleich beschämt. Ja, es war ihr peinlich, nicht nur in einen solchen Zustand gebracht worden zu sein, sondern dabei auch noch von allen gesehen zu werden, dazu all diese Umstände, Mühen und Kosten, die sie verursachte. Sie war bei klarem Bewußtsein, das hatte mir Massoud vorher schon gesagt, damit ich nicht erschrecke, aber ich hätte es auch sofort an ihrem Blick bemerkt.

Die Tränen in den Augen mußte ich nicht verbergen, da sie ohnehin wußte, was vor sich ging. Auch sie weinte. Sie nahm präzise wahr, was mit ihr geschau, was sie durchlitt und daß wir ihr zusahen; sie reflektierte es, darauf deutete die Konzentration in ihrem Blick hin, aber ihr waren die Möglichkeiten genommen, darauf zu reagieren, es wenigstens zu kommentieren. Das machte sie wütend, das spürte ich genau. Sie wollte das nicht hinnehmen, alles andere, aber das nicht. Deshalb unternahm sie immer neue Anläufe zu sprechen, ohne daß es ihr gelang, die Zunge zu den Sätzen zu bewegen, die sie auf den Lippen hatte. Sie stammelte etwas, blickte in unsere fragenden Gesichter, stellte fest, daß sie sich wieder nicht hatte verständlich machen können, und zuckte mit dem Kinn nach oben, um den Kopf im gleichen Augenblick verbittert von uns abzuwenden. Für mich war dies schwerer zu ertragen als die Schmerzensschreie: dieser nach oben zuckende und dann wegdrehende Kopf, das Wegwerfen, das sich darin andeutete, oder besser gesagt, der Versuch, es wegzuwerfen, das elende Leben, das den Aufwand nicht lohnt. Aber es ging nicht, nicht einmal das ging, denn es blieb an ihr haften, das Leben, sie konnte es einfach nicht abschütteln. „Gewöhnlich sagt man einem Menschen, dessen Zustand aussichtslos ist: ‚Gib es auf, leg dich hin und stirb!‘ “ heißt es in einer Erzählung Sadeq Hedayats. „Aber was geschieht, wenn der Tod dich nicht haben will, wenn er dir den Rücken zukehrt, wenn er einfach nicht zu dir kommt, nicht zu dir kommen will?“ Sie mußte weiter vor uns ausharren.

Und dennoch, so unangenehm ihr, der Glaubensstarken und immer Geduldigen, es war, vor uns so erbärmlich vorgeführt zu werden – noch schlimmer war für sie, wenn wir sie verließen, und sei es nur, daß einer aufs Klo mußte, denn sie vermochte nicht zu beurteilen, ob man auch wiederkommen würde. Sie verstand offenbar nur Bruchstücke dessen, was wir ihr zubrüllten, und dann war es auch so, daß sie uns oft nicht zu glauben schien, daß sie dachte, Badri oder Moussad würden sie nur schonen, wenn sie sagten, ihre Enkelin, ihr Bruder, ihr Neffe kämen gleich zurück. Wenn sie merkte, daß wir aus dem Zimmer gehen wollten, bettelte sie panisch wie ein kleines Kind, das nicht allein zu Hause bleiben will, da sie jedesmal dachte, wir würden nun nach Deutschland zurückkehren und sie würde uns nie mehr sehen. Wenn es einen Menschen gab, den Glaube und seelische Verfassung stark genug gemacht hatten, Schmerzen und Unheil zu erdulden, war sie es, aber das hier, das ging schlicht über ihre Kräfte hinaus, sogar über ihre Kräfte. Damit hatte sie nicht rechnen können, daß es so schlimm werden könnte, das hatte ihr niemand gesagt. Es stand in keinem Buch, nicht einmal im Buch Gottes, in dem sie täglich gelesen hatte. Es zog sich noch beinah ein Jahr hin, juckend, schmerzend, von Eiter überzogen: ein Martyrium. „Siehe da, er sei in deiner Hand“, sprach der Herr zu Satan (Hiob 2,6), der daraufhin Hiob mit bösartigen Geschwüren von der Fußsohle bis zum Scheitel schlug: „Mein Fleisch ist um und um wurmig und kotig; meine Haut ist verschrumpft und zunichte geworden.“ (7,5)

Gewiß ist Hiob keine Person aus unserem täglichen Leben. Dennoch muß man nicht in die Geschichte oder ferne, krisengeschüttelte oder von Katastrophen heimgesuchte Länder gehen, um ihn zu finden. Ein Besuch im Spital genügt. Man braucht nicht einmal zu den Schmerzpatienten gehen. Die Scham kann den Menschen ähnlich zersetzen, das sagen einem alle Pfleger. Dort habe ich ihn getroffen, nur noch 46 Kilo schwer, der auf dem Stuhltopf saß und eine hellbraune Flüssigkeit schiß. Bett und Kleider waren verschmiert. Der Pfleger stülpte sich Handschuhe über und wusch Po und Geschlecht des Wimmernden behutsam mit einem Schwamm. Bestürzter hätte mich Hiob nicht ansehen können. Viel schlimmer als die Schmerzen war für meinen Großvater, daß er am Ende die Herrschaft über seine Blase verloren hatte. Man macht sich hier keinen Begriff davon, was es in Iran vor zwei, drei Jahrzehnten noch bedeutete, Oberhaupt der Familie zu sein, welche Würde es zugleich voraussetzte und mit sich brachte. Und da sah ich Dreizehnjähriger nun, wie sich Großvater vor allen Leuten in die Hose machte, und ich war dabei, als meine Tante Jaleh ihm die Unterhose wechselte. Dabei hatte er für sich von Gott nur zwei Dinge erbeten, wie mein Bruder ein paarmal mitgehört hatte: vor seinen Kindern zu sterben, was ihm nicht vergönnt war, da sein jüngster Sohn übernächtigt gegen einen Baum fuhr, und zu sterben, bevor er auf die Hilfe anderer angewiesen war. Nun hatte Gott ihm, dem Stolzen, die Hilflosigkeit ausbuchstabiert wie ein pedantischer, unnachgiebiger Lehrer. Auch Tante Lobat quälte die Scham über die eigene Schwäche, das sah ich genau. Nicht einmal Hiob, der nackt auf der Asche sitzt und sich mit einer Glasscherbe kratzt, der einst vor allen gerühmte Hiob hält es aus, daß Gott ihn zum Spott für die Leute ausgestellt hat: „Mein Odem ist zuwider meinem Weibe, und ich bin ein Ekel den Kindern meines Leibes. Auch die jungen Kinder geben nichts auf mich; wenn ich ihnen widerstehe, so geben sie mir böse Worte. Alle meine Getreuen haben einen Greuel an mir.“ (19, 17-19)

Hiob konnte wenigstens noch klagen; meiner Tante war selbst dies verwehrt, sooft sie immer wieder neu versuchte, wenigsten einen einzigen Satz zu artikulieren. „O hätte ich einen, der mich anhört!“ (31, 35) Alle in meiner Familie, auch die Alten, waren sich einig, daß ihr das grauenvollste Sterben zuteil geworden war, an dem je einer von uns teilgenommen, von dem je einer gehört hatte – ausgerechnet ihr, der Gottesfürchtigsten unter uns, der Gerechtesten. Das genau ist die Erfahrung Hiobs, nicht nur das Leiden, auf welches das Christentum mit dem Kreuz eine entschiedene Antwort gibt, sondern dessen Ungerechtigkeit, das gottgewollte Unrecht, auf das auch das Kreuz nicht antwortet. Niemand hat es weniger verdient als er: „Denn es ist seinesgleichen nicht im Lande, schlecht und recht, gottesfürchtig und meidet das Böse“, spricht Gott, bevor Er Hiob dem Satan überläßt (1,8). Gerade weil Hiob gerecht ist, muß er leiden. Und wie Hiob zu Gott sagt, „Laß mich wissen, warum du mit mir haderst“ (10,2), so schien im bohrenden Blick meiner Tante die Frage zu liegen, warum Gott sie dem Bösen preisgegeben hatte – warum ausgerechnet sie? „Ist denn auf meiner Zunge Unrecht, oder sollte mein Gaumen Böses nicht merken?“ (6,30) In allen anderen Situationen hätte das eine selbstsüchtige Frage sein können. Hier war es die Frage nach dem Sinn, die Kernfrage Hiobs: Wie sind das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt in Einklang zu bringen mit dem Bild, das uns von Gott gelehrt wurde?

Aus: “Der Schrecken Gottes” von Navid Kermani

Atheisten sind aber gläubig

Ich bin vor kurzem, nachdem ich diesen tp-Artikel samt Kommentaren geleesen habe, hier über diesen Gedanken gestolpert:

Der gern geäußerte Vorwurf , beim Atheismus handle es sich auch nur um eine weitere Religion, entspringt der Vorstellung, auch derjenige sei abergläubisch, der keine Angst vor schwarzen Katzen hat.

Nach ein wenig Grübeln hab ich bemerkt, dass der Gedanke nicht funktioniert. Schließlich steht die Existenz der schwarzen Katze nicht infrage. Auch hab ich nach Leesen dieses Eintrags den Eindruck, dass der Autor der Seite sich in den Kategorien verstrickt, gegen die er kämpft.

Jetzt gehts mir nicht um die Ehrenrettung eines dialektischen Gedankens. Viel spannender bei dem Ganzen finde ich die Frage nach der Bedeutung des Begriffs ‚Glauben‘, was ja letztendlich in all dem steckt. Ich stell mir jetzt mal vor, ich sei jemand, der, hoch reflektiert, dabei nicht unnötig affektiert sondern eher ehrlich und bescheiden, sich selbst als Atheist bezeichnen würde. Ich würde vermutlich auf Kirche, Religion, die Welt verweisen, die Klugheit der Antike, die wenige im europäischen Mittelalter betonen und so versuchen aufzuzeigen, dass es eine schlechte, von Menschen gemachte Welt sei, die aber, weil sie von Menschen gemacht sei, besser werden könne, eben genau dann, wenn die Menschen erkennten, wessen Geistes Kind sie wären und sich von den Verblendenden Reden derer befreiten, die da an eine moralische Vormacht außerhalb dieser Welt glauben. Ich würde also versuchen, die Menschen von ihrem schlechten Glauben zu befreien, einer Unvernunft, die nicht auf Erkenntnissen, auf Fakten, Logik, auf Beweisbarem sondern auf blinden Vorstellungen beruht. Ich wäre der Ansicht, dass die Kategorie ‚Wissen‘ über der des ‚Glauben‘ steht, da ja schließlich etwas zu wissen valider sei, als etwas zu glauben. In all dem würde ich nicht loskommen können von den Ansichten derer, die da glauben, würde sie insgeheim lächerlich finden, ihnen das aber nicht so deutlich offenbaren wollen, würde mich damit beschäftigen wollen, was jemanden dazu treibt, zu glauben, obwohl er wissen kann. Mit der Dauer der Auseinandersetzung mit Religionen und Kirchen würde ich vermutlich verbitterter, weil ich sehen würde, wie sich die Naivität überall wiederholt und ihre Kreise zieht. Irgendwann vor meinem Tod würde ich den Kopf schütteln und denken: „Ich habe es richtig gemacht – mit allen Fehlern, die dazugehören, aber im Grundsatz richtig.“ Ich weiß nicht, ob ich jemals erkannt hätte, dass ich andere letztlich nur von meinen Ansichten hätte überzeugen wollen. Ich hätte wohl nicht beachtet, dass man fremde Erkenntnisse nur glauben kann.

Naja, zum Glück lebe ich ja nicht hoch reflektiert… Glaub ich.

Entweder–Oder

ENTWEDER
Und was ist das Leben anderes als Wahnsinn, und der Glaube anderes als Torheit, und die Hoffnung anderes als Galgenfrist, und Liebe anderes als Essig in der Wunde … Stehet auf, liebe Mit-Verstorbene! Die Nacht ist vorüber, der Tag beginnt wieder seine unermüdete Tätigkeit, niemals, wie es scheint, überdrüssig, immer und ewig sich selbst zu wiederholen.

ODER
So ist also dies, daß wir gegen Gott immer unrecht haben, ein erbaulicher Gedanke; es ist erbaulich, daß wir unrecht haben, erbaulich, daß wir es immer haben. Er erweist seine erbauende Kraft auf zwiefache Weise, teils dadurch, daß er dem Zweifel einhalt tut und den Kummer des Zweifels besänftigt, teils dadurch, daß er zum Handeln ermutigt.

Søren Kierkegaard

Prokrastination

In letzter Zeit mach ich mir gelegentlich Gedanken zum Thema Prokrastination, um unliebsame Aufgaben nicht sofort erledigen zu müssen. Mir kam dabei der Gedanke, dass diese dunkle Macht, die sich schon in alten Sprichwörtern verbarg, durch die Möglichkeiten durch das Netz im Umgang mit Wissen sich erst so richtig entfalten kann. Wenn ich bspw. sehe, wie viele Schüler sich informieren, sei es, weil es eine Hausaufgabe war oder weil wir über einige Stunden projektartig zu einem Thema arbeiten, dann fällt auf: Viele drucken sich z.B. Wikipedia-Artikel aus, in denen die gewünschten Informationen drin stehen. Das Wissen, die benötigten Informationen sind also schwarz auf weiß vorhanden. Viele verstehen einfach nicht, dass es die wesentliche Aufgabe ist, sich die Informationen selbst anzueignen und sie nicht nur zur Hand zu haben – oder sie verstehen es sehr wohl und das Aufschieben findet statt, weil es vielleicht mit Unannehmlichkeiten verbunden ist, den Text zu lesen und die benötigten Informationen rauszuschreiben. Sprich: Die Faulheit steigt mit den Möglichkeiten.

Jetzt wäre es nicht nur unfair sondern würde auch zu einem falschen Bild führen, wenn ich bei den „faulen Schülern“ stehen bleiben würde: Ich kämpfe ja tagtäglich selbst gegen die verschiedensten Aufschiebestrategien. Unterrichtsvorbereitungen mal eben schnell aus dem Netz gezogen (wobei das auch gar nicht unbedingt schneller geht), anstatt sich selbst Gedanken für die Stunde zu machen, gehört da genauso dazu, wie Blog-Artikel zu schreiben, wenn man eigentlich Wichtigeres zu tun hätte… – Apropos: Ich führe die Gedanken vielleicht an anderer Stelle mal fort…

PS: Wer weiß, wie viele wichtige Gedanken, Ideen und Projekte in Prokrastination geboren sind.

Zur Afghanistan-Diskussion

Ihr sagt zwar Menschlichkeit, meint aber Macht. Denn ihr greift nicht zufällig da ein, wo’s euch machtpolitisch behagt. In einigen Teilen der Welt sind euch Menschenrechtsverletzungen egal, an wirtschaftlich oder strategisch bedeutsamen Stellen seid ihr auf einmal dabei.

Ich denke, dieser Ausschnitt aus einem Interview mit Christoph Kampmann in der FR ist der entscheidende Punkt für eine Diskussion, ob der Afghanistan-Krieg richtig ist oder notwendig – erst recht nach dem zweifelhaften Bombardement zur Verhinderung eines Anschlags. (Interessanterweise ist hier in manchem journalistischen Beitrag derzeit das Interesse an der unheitlichen Bewertung des Vorgangs innerhalb der NATO größer als an der Frage nach dem richtigen Handeln.) Die weiterführende Frage lautet: Ist die Tatsache, dass an vielen anderen Stellen der Welt weggeschaut wird und in Afghanistan nur zweitrangig humanitäre Beweggründe eine Rolle spielen, ein Argument, Afghanistan sich selbst zu überlassen? (Erst danach sollte man sich übrigens mit der Frage beschäftigen, ob der Krieg überhaupt noch zu gewinnen ist.)

Entschuldigung ohne Reue

Zwei Gedanken zu Rüttgers Aussagen über die faulen Rumänen, die, weil sie zu spät zur Arbeit kämen, schlechtere Handys produzieren würden, und die irgendwie auch doofen Chinesen. Auslöser ist der Ausspruch von Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Armin Laschet auf FR-Online, der Rüttgers wie folgt verteidigt:

„Ich finde die Reaktionen völlig überzogen“, sagte Laschet am Montag im ZDF-„Morgenmagazin“. Rüttgers Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vorzuwerfen, sei „geradezu absurd“. „Deshalb sollte man die Tassen im Schrank lassen“ und Rüttgers‘ Entschuldigung annehmen, forderte Laschet. Im Engagement für den früheren Nokia-Standort Bochum sei ihm „diese Formulierung durchgegangen“.

Zum einen hat Rüttgers sich nicht entschuldigt: „Ich wollte niemanden beleidigen, wenn das doch geschehen ist, tut mir das leid.“ Die Formulierung nimmt sein eigenes Handeln aus der Verantwortung, eine echte Entschuldigung würde sich nämlich z.B. so anhören: „Es tut mir leid, dass ich jemanden beleidigt habe.“ Zu einer Entschuldigung gehört die Einsicht, einen Fehler begangen zu haben, kurz: Reue. Die kann ich aus dem Wortlaut nicht lesen.

Zum anderen bedeutet Laschets Aussage, die Formulierung sei mit Rüttgers durchgegangen, dass Rüttgers inhaltlich recht habe. Die Gedanken, die dahinter stehen und also nach wie vor in Rüttgers Kopf Raum haben, die er nur kurzzeitig formulierungstechnisch nicht im Zaum hatte, sind doch das eigentliche Problem. Das wirklich Bittere an der Sache ist, dass er Ministerpräsident eines ziemlich großen Bundeslandes ist und da finde ich es schon krass, dass so eine Weltanschauung sich in so einer mächtige Position befinden kann…

Jetzt kann man mir natürlich vorhalten, ich sei, weil ich als Deutschlehrer von Formulierungsangelegenheiten sowieso besessen sei, da sehr verbissen an ein paar unbedeutende Wörter und Phrasen rangegangen. Man muss sich dabei allerdings im Klaren sein, dass Rüttgers seine ‚Völkerkunde‘ nicht nur einmal offenbart hat und Politiker seines Schlages vermutlich die Hälfte ihres Lebens in Rhetorik-Seminaren verbracht haben, um eigene Überzeugungen in Formulierungen zu verpacken, die niemand mehr wirklich versteht.

PS: Man muss doch mal die Tassen im Schrank lassen wird wohl zu meinem persönlichen Sprichwort-Favoriten…

Richtlinie und Verantwortung

Je länger ich in der Schule bin, desto stärker festigt sich der Gedanke, dass allzu strikte Regeln und Verhaltensmaßgaben Menschen zur Verantwortungslosigkeit erziehen. Aktueller Auslöser zu diesem Gedanken war die Neuregelung der ‚Verkehrsführung‘ einer Unterführung, die sowohl Fußgänger als auch Radfahrer nutzen. Seit kurzer Zeit ist diese breite Unterführung, die bergab und um die Kurve führt, in einen schmalen Teil für Fußgänger und einen breiteren für Radfahrer mit entsprechenden Symbolen und Linie auf dem Boden markiert. Das mag in dem ein oder anderen Fall auch sinnvoll sein, weil so wahrscheinlicher Zusammenstöße zwischen Kinderwagen und Radfahrern vermieden werden könnten. Allerdings kam mir, als ich eben mit einem Freund dort spazieren ging, der Gedanke, dass die Markierung langfristig den genau gegenteiligen Effekt haben könnte: Statt vorsichtig um die Kurve zu fahren, weil ja auch Fußgänger die Unterführung nutzen könnten, würde sich ein Radfahrer wohl recht schnell auf die markierten Verkehrsregeln verlassen und so die Verantwortung für sein Handeln dieser Wegstruktur übertragen. Ob nun ein oder mehrere Fußgänger sich hinter der Kurve befinden, wird dann irrelevant und führt vielleicht dazu, unvorsichtiger zu fahren…

Nach ähnlichem Prinzip verhält es sich auch mit anderen Richtlinien, die bspw. das Zusammenleben ordnen. Unter dem Diktat der Regel, ohne dass ein Bewusstsein vorhanden wäre, warum diese Sinn macht, gibt man die Verantwortung schnell ab, weil man sich ja so verhält, wie es von einem verlangt wird. Passen Regel und Situation allerdings nicht zusammen, wäre es angebracht, in eigener Verantwortung sinnvoll zu handeln. Und in der Schule erlebe ich es eben oft, dass Lehrer mit Schülern vor allen Dingen formale Kämpfe statt inhaltlichen führen, also aus Prinzip auf dem Einhalten von Regeln beharren. Und das wird eben dann problematisch, wenn es nicht möglich ist, bewusst zu machen, warum diese durchzusetzenden Verhaltensregeln sinnvoll sind. Verantwortungsvoll scheint also erst der zu handeln, der sich inhaltlich begründet sinnvoll über Regeln hinwegsetzt:

[…] es muss Normen geben, die zu einer Abweichung von einem Sollen führen können. (wikipedia)

Dies soll nun nicht zu Anarchie und Abschaffung von Regeln aufrufen. Stattdessen sollte sich folgendes Bewusstsein in den Köpfen festsetzen: Regeln sind dazu da, um zu lernen, wann man sie brechen muss. Anarchie führt zur Beliebigkeit und somit zur Bedeutungslosigkeit des eigenen Handelns. Aber Regeln zu brechen, wenn es inhaltlich begründet ist, stärkt die Erziehung zu verantwortlichem Handeln und Denken. Mit diesem Bewusstsein lässt sich so mancher Situation weniger verbissen entgegentreten…

Demokratie

Während ich gerade Hart aber Fair schaue mit Lafontaine, Gabriel, Künast, Westerwelle und Koch (von links nach rechts), kommt mir so der Gedanke, dass sich in den nächsten, sagen wir zehn Jahren eine Entwicklung auftun könnte, die den bisschen demokratischen Prinzipien in Deutschland schaden könnte: Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland sich in der parlamentarischen Demokratie immer weniger wiederfinden werden. Die einzigen, die derzeit wissen, welche Partei sie wählen werden, sind die auf Seiten des „bürgerlichen Lagers“ (was ein hässlicher Begriff, schließlich kann jeder Bürger wählen und nicht nur diejenigen sind Bürger, die FDP oder CDU/CSU wählen). Wenn sich dieser Koalition in der nächsten Legislatur durchsetzt und ihre Wahlprogramme weitestgehend umsetzen werden, wird sich das, was sich momentan schon an Protestpotenzial in Parteien wie der Linken wiederfindet, noch stärker ausbilden, ohne allerdings von Parteien wirklich eingebunden werden zu können. Sprich: Bei einer schwarz-gelben Koalition wird sich der Protest (=gesellschaftliche Spaltung) radikalisieren. Und was dann bei der nächsten Bundestagswahl bei rauskommt, möchte ich nicht mutmaßen.

PS: Ich bin ja gespannt, wie stark die Piraten-Partei wird, die dort, wo sie inhaltlich wird, interessante Ansätze verfolgt. Vielleicht hat sie gerade wegen ihrer Aussagelosigkeit zu vielen gesellschaftlichen Themen (Wirtschaft, Arbeit, Umwelt…) eine große Chance, die Volkspartei der Zukunft zu werden…

Aus den Aufzeichnungen: Gedanken zur Entwicklung

Folgende kurze Zeilen sind nicht von mir – ich habe sie Aufzeichnungen entnommen, die mir neulich durch einen Zufall in die Hände gefallen sind. Ich stelle hier zunächst nur einen kurzen Ausschnitt vor, der, wie ich finde, in sich geschlossen wirkt. Das Problem ist nämlich, dass innerhalb der Aufzeichnung kein wirklicher Zusammenhang zu erkennen ist – eben dadurch, dass viele Gedanken wahllos aneinandergereit scheinen, beinahe wie in einem Tagebuch. Dennoch ist durch alle Texte hindurch eine unbestimmbare Kontinuität erkennbar, die berechtigen, unten Stehendes als einen Ausschnitt zu bezeichnen.

Gedanken zur Entwicklung

Wenn es nun aber eine Evolution gibt – und die Frage lautet eher, welche Bedeutung damit verknüpft ist … –  wenn es nun aber eine Entwicklung gibt, deren Antrieb der Zufall, deren Zweck, Ziel und Sinn der Fortschritt ist, dann muss man mir erklären, warum sie genauso und in diese Richtung stattfindet (also: warum der Fortschritt der Sinn der Entwicklung ist). Was treibt Materie (oder besser: das, was man allgemein hin damit bezeichnet) dazu an, dass sie einen Geist, ein Bewusstsein, erschafft, der sie selbst in Frage stellt? Oder sollte ‚Geist‘ tatsächlich nur ein überaus komplexes synaptisches Netzwerk sein? – Ein Netzwerk, welches sich urplötzlich durch Vorstellungskraft, also durch konstruierte Wahrnehmung, entschließt zu bemerken: „Hoppla, ‚ich‘ bin ja mehr als die Summe und das Zusammenspiel von Wahrnehmung!“? .. Dieses ‚Ich‘-Erkennen ist an und für sich der beste Hinweis darauf, dass es gerechtfertigt ist, von den beiden Begriffen Materie und Geist auszugehen – zumindest,  solange wir keine besseren haben.
Nun aber zu meinem Punkt: Ich glaube, dass es zu der sich selbst bewussten Materie mehr braucht als nur Materie. Ich glaube fest daran, dass es dazu ein göttliches Wort gebraucht hat. Der Zufall kennt schließlich keine Richtung.
Man könnte hier natürlich entgegenhalten, dass wir jetzt, da wir zurückblicken können auf Jahrzehnte, Jahrtausende, Jahrmillionen von materieller und kultureller Entwicklung, die Richtung erst dadurch definieren. Allerdings müsste es schon ein argwilliger Zufall sein, der sich selbst ein Bewusstsein schafft, das im Grunde genommen nur die Wahl hat, ihn in Frage zu stellen oder als Alternative selbst sinnlos zu sein.
Kouska hat bereits in faszinierender Weise ausgeführt, dass entweder die Wahrscheinlichkeitstheorie selbst  falsch sein muss oder es gibt keine gelebte Welt mit dem Menschen als bewusstseinschaffende Kreatur. Anders gesagt: Die Wahrscheinlichkeit meiner Existenz ist statistisch betrachtet so gering, dass sie mathematisch als unmöglich bezeichnet werden muss. Wenn es aber unmöglich ist und ich trotzdem bin, dann gibt es einen Widerspruch, der sich nur in Sinn auflösen kann, indem sich alles in der Bedeutungslosigkeit verliert. Und dagegen glaube ich.

Ich empfinde diese kurzen wenn auch gelegentlich holprig dargelegten Gedankengänge als interessant; wenngleich man das Gefühl hat, dass der Autor an der ein oder anderen Stelle sehr springt und man irgendwie mehr von ihm wissen möchte, um zu verstehen, was er meint, so wirken sie gerade dadurch echt, dass vielleicht eben keine klare Linie zu erkennen ist, wie es beispielsweise bei einem Aufsatz üblich ist, der sich an einen konkreten Leser richtet. Worauf sich der Autor bezieht, wenn gegen Ende von den Ausführungen Kouskas die Rede ist, blieb mir bislang verborgen. Sein Anliegen wird dennoch deutlich, denke ich. Ich habe den Zeilen, da der Verfasser selbst es versäumte, ihnen einen Titel zu geben – vielleicht empfand er es in seiner Situation als unnötig –, eigenmächtig diesen Namen gegeben. Zwar weiß ich nicht, ob er damit einverstanden gewesen wäre, aber so ganz nackt wollte ich die Gedanken dann doch nicht hier stehen lassen.

Und wenn es Garfield niemals gegeben hat? – Depressiv aufhellende Gedanken

Garfield minus Garfield

[…] Das Ergebnis der Retusche ist ein Comicstrip über Garfields Herrchen Jon – und das verstörende Porträt eines Single-Lebens in den amerikanischen Suburbs. „Hattest du je das Gefühl, eine ganze Menge zu verpassen“, fragt Jon den Leser. Wo im Original Garfields leidlich sarkastische Antwort („Ja. Ist das schlimm?“) den Strip zwangspointiert, sind in der neuen Fassung nur zwei Panels mit dem ins Nichts stierenden Jon zu sehen. Keine Erlösung durch dumme Antworten. Nur Leere.

Leere ist überhaupt die alles dominierende Botschaft der „Garfield minus Garfield“-Strips. Da die Originale aus jeweils drei Bildern bestehen und Garfield die Hauptrolle in der Reihe innehat, bedeutet dies für die neuen Versionen, dass in vielen Panels nach der Retusche gar nichts mehr zu sehen ist. Jon, der sich Maiskolben in Mund und Ohren steckt. Und dann: nichts. Jon, der fragt „Wie ist der Salat?“ Und dann: nichts.

Garfield wurde wegretuschiert. Und? Weg ist er damit nicht. Der gedankliche Trick: Natürlich braucht man Garfield, um ihn retuschieren zu können. Der „Garfield minus Garfield“-Strip funktioniert nur, weil es Garfield in Wahrheit gibt. Jons einsame Depression funktioniert nur mit dem gedanklichen Garfield – auch wenn der erst wegretuschiert werden muss…

Vielleicht ist das die dialektische Antwort auf die depressive Gewissheit derer, die die Antwort nicht ertragen können: Das Leben hat einen Sinn. Die Gewissheit, dass das Leben sinnlos ist, kann logisch-dialektisch nur funktionieren, weil es einen Sinn gibt (, der verloren ging, wegretuschiert wurde, was auch immer).
Und: Viel lieber als diejenigen, die sich wie Jon der Resignation hingeben, sind mir doch jene, welche den Kampf gegen die Sinnlosigkeit aufnahmen. Deren Waffe ist interessanterweise das Leid. So wird zum Beispiel im Zusammenhang mit Heinrich Heines Matratzengruft gesagt:

Man mag den Tod ignorieren können, aber nicht den Schmerz. Büchners „Riß in der Schöpfung“, den das „leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom“, erzeugt, läßt vielleicht erst erahnen, daß die Welt eine Schöpfung und also nicht alles ist.
(Navid Kermani: Der Schrecken Gottes, Seite 37)

Dazu (mal wieder) Blumfeld:

Soviel ist klar: Wir sind nicht neu,
Schon lange hier sind wir wie Risse in der Schöpfung. […]

Was mach ich bloß an dieser Stelle,
An der ich längst noch nicht zu mir gekommen bin,
Wo ich mich kreuz und quer zerstreue –
In alle Himmelsrichtungen
Denk ich mich dauernd zu Dir hin.

Ich beende diese Hardcore-Gedanken-Session mit Hiob, dem Ewigen, der von Gott sagt:

Siehe, tötet er mich, ich werde auf ihn warten, nur will ich meine Wege ihm ins Angesicht rechtfertigen.

Kurze Gedanken zu Autismus und dem Netz

ich will kein inmich mehr sein ich habe augen und kann sehen deshalb habe ich schreckliche angst gehabt ich habe deshalb nichts mehr sagen wollen ich hatte angst vor ende des weges und der gemenschseinheit zu ende
7.3.91 (Birger Sellin)

Diese Zeilen sind von Birger Sellin, einem Autisten, der mit Hilfe Computergestützten Kommunikation allmählich seinem Inneren ein Äußeres geben konnte. Wirklich lesenswert, sein Buch. Ich hab mich beim Leesen stark an ein Gedicht von Rainer Werner Faßbinder erinnert gefühlt:

Nietzsche
Eine Sprache aus Trauer
aus Licht eine Mauer
Gedanken aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Lebendige Leichen
voll Kraft und Gewalt
Von Gott keine Zeichen
so schön von Gestalt

Eine Sehnsucht aus Tränen
und Perlen von Zähnen
Gesichter Aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Wird Schönheit versteigert
Nach Maßen gemessen
wird Freiheit verweigert
ganz einfach vergessen
Eine Schale aus Schmerzen
vom Schmerz brechen Herzen
Muskeln aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Container an Ketten
und die Haut die dich quält
kein Gott dich zu retten
vor dem Feuer das fehlt

Eine Sonne aus Eisen
mit Qual lächelnd reisen
Götter aus Stein
und ein Sein ohne Sein

Ok, ich kannte es nicht, bevor ich nicht „Eine eigene Geschichte“ auf der Blumfeld-Platte „L’Etat Et Moi“ gehört hatte, in dem es heißt:

Eine eigene Geschichte
aus reiner Gegenwart
sammelt und Stapelt sich
von selbst herum um mich
während ich durch die Gegend fahr

Und der Staat ist kein Traum
ist sogar in meinen Küssen
ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen
und Welt verwaltender Zustand
eher Raum als Position
und so organisiert er sein Verschwinden
indem er sich durch mich bewegt
durch Gedanken aus Stein aus Licht eine Mauer
eine Sonne aus Eisen eine Sprache aus Trauer

Auf jeden Fall wirkt Sellins Sprache vom selben Gefühl berührt wie die Sprache dieser Lyrik. Und das Thema Autismus lässt mich auch seit einer ganzen Weile nicht mehr los. In Kierkegaards „Schattenrisse“ in Entweder–Oder findet sich auch eine Passage über die reflektierte Trauer, die in all ihren Facetten ziemlich genau ein autistisches Gefühl beschreibt, ohne es zu wollen:

Wie der Kranke in seinem Schmerz sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite wirft, so ist auch die reflektierte Trauer hin und her geworfen, um ihren Gegenstand und ihren Ausdruck zu finden. Wenn die Trauer Ruhe hat, so wird das Innere der Trauer auch allmählich sich nach außen durcharbeiten, im Äußeren sichtbar und somit Gegenstand künstlerischer Darstellung werden. Wenn die Trauer Muße und Ruhe in sich selber hat, so setzt die Bewegung von innen nach außen ein, die reflektierte Trauer bewegt sich nach innen, gleich dem Blut, das aus der Oberfläche flieht und dies nur durch hineilende Blässe ahnen lässt. Die reflektierte Trauer bringt keine wesentliche Veränderung im Äußeren mit sich; selbst im ersten Augenblick der Trauer hastet sie schon nach innen, und nur ein sorgfältigerer Beobachter ahnt ihr Verschwinden; später wacht sie peinlich darüber, dass das Äußere so unauffällig wie möglich sei.
Indem sie nun solchermaßen sich nach innen wendet, findet sie schließlich ein Gehege, ein Innerstes, wo sie meint bleiben zu können, und nun beginnt sie ihre einförmige Bewegung. Wie das Pendel der Uhr, so schwingt sie hin und her und kann keine Ruhe finden. Sie fängt immer wieder von vorne an und überlegt wieder, verhört die Zeugen, vergleicht und überprüft die verschiedenen Aussagen, was sie schon hundertmal getan hat, aber nie wird sie fertig. Das Einförmige bekommt mit der Zeit etwas Betäubendes. Wie der eintönige Fall der Dachtraufen, wie das eintönige Schnurren des Spinnrades, wie das monotone Geräusch, das entsteht, wenn ein Mensch in einer Etage über uns mit gemessenen Schritten hin und her geht, betäubend wirken, so findet die reflektierte Trauer schließlich Linderung in dieser Bewegung, die als eine illusorische Motion ihr zur Notwendigkeit wird. Endlich ergibt sich ein gewisses Gleichgewicht; das Bedürfnis, die Trauer zum Durchbruch kommen zu lassen, sofern es sich gelegentlich geäußert haben mag, hört auf, das Äußere ist still und ruhig, und tief innen in ihrem kleinen Winkel lebt die Trauer gleich einem wohl verwahrten Gefangenen in einem unteridischen Kerker, dort lebt sie ein Jahr ums andere dahin in ihrer einförmigen Bewegung, wandert auf und ab in ihrem Verschlag, nimmer müde, den langen oder kurzen Weg der Trauer zurückzulegen.
Der Grund dafür, dass es zu einer reflektierten Trauer kommt, kann teils in der subjektiven Beschaffenheit des Individuums liegen, teils in dem objektiven Leid oder dem Anlass zur Trauer. Ein reflexionssüchtiges Individuum wird jede Trauer in reflektierte Trauer verwandeln, seine individuelle Struktur und Organisation macht es ihm unmöglich, sich die Trauer ohne weiteres zu assimilieren. Dies ist indessen eine Krankhaftigkeit, die nicht sonderlich zu interessieren vermag, da auf diese Weise jede Zufälligkeit eine Metamorphose erfahren kann, durch die sie zu einer reflektierten Trauer wird. Etwas anderes ist es, wenn das objektive Leid oder der Anlass der Trauer im Individuum selbst die Reflexion erzeugt, welche die Trauer zu einer reflektierten Trauer macht. Dies ist überall da der Fall, wo das objektive Leid in sich nicht fertig ist, wo es einen Zweifel zurücklässt, wie dieser im übrigen auch immer beschaffen sein möge. Hier eröffnet sich dem Denken alsbald eine große Mannigfaltigkeit, um so größer, je nachdem einer viel erlebt und erfahren oder er Neigung hat, seinen Scharfsinn mit derartigen Experimenten zu beschäftigen. Es ist indessen keineswegs meine Absicht, die ganze Mannigfaltigkeit durchzuarbeiten, eine einzige Seite nur möchte ich ans Licht ziehen, so wie sie sich meiner Beobachtung gezeigt hat. Wenn der Anlass der Trauer ein Betrug ist, so ist das objektive Leid so beschaffen, dass es im Individuum die refletkierte Trauer erzeugt. Ob ein Betrug wirklich ein Betrug ist, lässt sich oft äußerst schwer feststellen, und doch hängt alles davon ab; solange es zweifelhaft ist, solange findet die Trauer keine Ruhe, sondern muss fortfahren in der Reflexion auf und ab zu wandern. Wenn ferner dieser Betrug nichts Äußerliches betrifft, sondern das ganze innere Leben eines Menschen, seines Lebens innersten Kern, so wird die Wahrscheinlichkeit für das Fortdauern der reflektierten Trauer immer größer.

Ich gebe zu, dass es mittlerweile keine „Kurzen“ Gedanken mehr sind. (Obwohl ich bislang eigentlich nur zitiert hab…) Und worauf ich eigentlich hinaus wollte, hab ich bislang noch nicht einmal erwähnt:
Ich hab neulich irgendwo mal was von einer Studie geleesen, die Hinweise darauf gegeben haben soll, dass mit der steigenden Computer- und Internetnutzung auch autistische Verhaltensweisen häufiger vorkämen. Man kann bei Autismus nicht wirklich von einer Krankheit sprechen. Um so interessanter, dass ich mich in so manchen autistischen Verhaltensweisen wiederfinde – nicht dass ich mich als Autist sehe oder auch nur behaupten würde, ich hätte sowas wie das Asperger-Syndrom. Nein, es ist vielmehr, dass ich glaube, dass prinzipiell jeder Mensch jedes Verhalten in unterschiedlich starker Ausprägung bei sich vorfinden kann, wenn man nur lange genug in sich sucht. Und so dachte ich auch bei mir, dass ich – seit ich mich um diese Internetseite bemühe – irgendwie im Netz mehr aus mir raus gehe. Obwohl ich hier die ganzen Sachen in die Welt hinausposaune, bring ich manchmal nicht die einfachsten Worte meinem persönlichen Gegenüber über die Lippen. (Vielleicht bin ich auch manchmal einfach „behindert“ wie meine Hauptschüler sagen würden…) Ich glaube, dass das im Wesentlichen daran liegt, dass ich, obwohl ich weiß, dass die Dinge hier vielleicht von ein paar Leuten geleesen werden, Leuten, die mich auch persönlich kennen, niemandem ins Angesicht sehen muss, während ich rede.
Autisten meiden in der Regel direkten Blickkontakt. Für manch einen wäre es eine Strafe, ihn zu zwingen, einem in die Augen zu sehen. Das Internet hat den Vorteil der absoluten Anonymität – nicht so sehr des eigenen Selbst, sondern vielmehr des Gegenübers. Der geheimnisvolle Leser ist glaube ich der entscheidende Punkt, warum es einem in diesen moderneren Kommunikationskanälen leichter fällt, sein Inneres zu entäußern. An anderer Stelle tut man das nur, wenn man sein Gegenüber ausgesprochen gut kennt und ihm vertraut.

ohne unerkannt zu bleiben rede ich keine vernünftigen sachen alles ist lüge
14.3.91 (Birger Sellin)

Der liebestrunkene Beduine

Ein Beduine lebt in der Salzwüste und kann mit dem ungenießbaren Brackwasser kaum überleben. Nach Jahren des Dürstens findet er zum ersten mal Trinkwasser und glaubt, es handele sich um das Wasser des Paradieses. Vom Glück überwältigt, füllt er seine Schale damit und bricht auf, um sie dem Kalifen Ma’mun zu schenken und belohnt zu werden. Tatsächlich trifft er den Kalifen, der gerade von der Jagd heimkehrt.
– Aus dem höchsten Himmel habe ich ein Geschenk gebracht für den Fürsten der Gläubigen.
– Was denn?
– Das Wasser des Paradieses, ruft der Beduine und hält dem Kalifen die Schale entgegen, darin eine warme, übel riechende Flüssigkeit. Ma’mun erkennt sofort, wie es um den Beduinen bestellt ist. Dennoch trinkt er aus der angebotenen Schale, ohne sich den Ekel anmerken zu lassen. Dann sagt er zum Beduinen:
– Wunderbar hast du das gemacht, so ein herrliches, klares Wasser. Es ist wahrlich das Wasser des Paradieses. Nun wünsche dir, was immer du willst.
Der Beduine schildert ausführlich seine elende Existenz in der Salzwüste und überläßt es dem Kalifen, ob der ihn belohne. Da schenkt der Kalif ihm tausend Dinar. Zu Bedingung stellt er allerdings, daß der Beduine sofort umkehre und sich nach Hause in die Salzwüste begebe, da sein Leben hier in Gefahr sei. Als der Kalif nachher gefragt wird, warum er die Bedingung gestellt habe, antwortet Ma’mun:
– Wäre er weitergezogen, so wäre er auf den Euphrat gestoßen und hätte die Wertlosigkeit seiner Gabe erkannt. Diese Beschämung wollte ich ihm ersparen, denn er kam ja von weit her, um mich zu sehen, und hat gegeben, was er zu geben vermochte.

Nachdem er die Geschichte des Beduinen erzählt hat, kommt Attar noch einmal auf  das weite Elend zurück, das in sein Herz dränge und sich täglich verdichte, so daß er aus Kummer über sich selbst am liebsten stürbe: Jede Nacht bringe ihm tausend neue Gaben aus Blut. Aus dem Salzland der Welt komme er, aus dem Staubwind vergeblicher Bitten, ein Schlauch voller Sehnsuchtstränen auf der Schulter. Möge Gott so gnädig sein wie der Kalif zu dem Beduinen. Und so formuliert der allerletzte Vers im „Buch der Leiden“ eine Hoffnung, die Hoffnung freilich der Hoffnungslosen: daß alles nur ein Alptraum sei.

An der Hand zieh mich, wenn du es kannst,
Aus diesem Wirrwar heraus, als wär‘ nichts gewesen.

Aus: „Der Schrecken Gottes“ von Navid Kermani